Das heutige Wettbewerbsrecht, zumindest in den westlichen Demokratien, geht im Grunde auf den Sherman Antitrust Act von 1890 zurück. Damit versuchte die damalige US-Regierung, die Macht der Räuberbarone, die gegen Ende des Wilden Westens unkontrollierte Macht genossen, einzudämmen.
Das Gesetz wurde gegen Eisenbahngiganten und Zuckerkartelle angewendet und war schließlich 1906 die Grundlage für das Zerschlagen von Standard Oil, das in 34 Einzelunternehmen aufgeteilt wurde. Auch wenn das ursprüngliche Gesetz ein Produkt der ersten Industriellen Revolution war und sich in erster Linie gegen Preisabsprachen und das Ausnutzen von Marktmacht wandte, hat es sich über ein Jahrhundert lang als erstaunlich flexibel erwiesen. So wurde es erfolgreich eingesetzt, um Auswüchsen im Sport, in der Filmindustrie und in der Telekommunikation zu begegnen: 1982 berief sich die US-Regierung auf den Sherman Act, um den Moloch AT&T zu entflechten und den Wettbewerb unter den Telefongesellschaften bis heute anzuheizen. 20 Jahre später beriefen sich die Richter im Prozess gegen Microsoft auf den Sherman Act, um den Software-Riesen unter Kuratel zu stellen, was die PC-Markt nachhaltig belebte.
Die spannende Frage lautet, ob das derzeitige Wettbewerbsrecht im Digitalzeitalter noch relevant ist oder ein neues digitale Monopolgesetz benötigt wird, eine Art Sherman Act fürs Internet-Zeitalter.
In Wahrheit ist unser Wettbewerbsrecht hoffnungslos veraltet. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde es Mode, die kurzfristigen Interessen der Verbraucher in den Mittelpunkt zu stellen, also kurz gesagt: die Preise! Monopolist war einer, der seine marktbeherrschende Stellung dazu missbrauchte, nach Gutdünken an der Preisschraube zu drehen. Umgekehrt wären niedrige Preise Anzeichen für funktionierenden Wettbewerb. So gesehen ist Amazon das Gegenteil eines Monopolisten, weil er andere zwingt, ihre Preise zu senken, um noch mit Amazon mithalten zu können.
Inzwischen setzt sich aber immer mehr die Erkenntnis durch, dass Preise nur ein Teil des komplizierten Puzzles sind, die den Wettbewerb fair oder unfair macht. Was Amazon macht, beschreibt die Ökonomin Linda Khan als „predatory pricing“ – räuberische Preisgestaltung. Amazon ist nicht nur ein Marktplatz mit einem weltweiten Anteil am Online-Handel von fast 50 Prozent, sondern auch ein Logistikunternehmen, ein Inkassoservice, ein Auktionshaus, ein Buchverleger, ein Filmproduzent, ein Modedesigner, ein Hardwarehersteller und der führende Anbieter von Cloud Services. Amazon kann es sich also leisten, auf Gewinne zu verzichten zugunsten von Wachstum. Während Amazon in Amerika 2018 magere 1,6 Milliarden Dollar verdiente, machte das Unternehmen im Ausland sogar kräftig Miese: Die Verluste im internationalen Geschäft stiegen um 29 Prozent auf 622 Millionen Dollar. Aber das macht Jeff Bezos nichts, denn schließlich kontrolliert er heute fast die komplette Infrastruktur, auf die sich andere Händler verlassen (müssen). Und da Amazon besonders gut darin ist, Transaktionsdaten zu sammeln und auszuwerten, sind sie in der Lage, ihre Geschäftsstrategie jederzeit so anzupassen, dass kein Wettbewerber gegen sie auch nur den Hauch einer Chance hat.
Unsere Wettbewerbshüter denken aber nach beim Wort „marktbeherrschend“ immer noch nur an eines: die Preise! Dabei merken sie gar nicht, welche Macht Amazon inzwischen besitzt und was das für die Zukunft des Handels bedeutet. Lina Khan ist sogar überzeugt, das Amazon-Chef Jeff Bezos von Anfang an genau gewusst hat, was er tat und seine Geschäftsstrategie so aufgebaut hat, dass sie die Lücken im gegenwärtigen Wettbewerbsrecht geschickt ausnützt.
Die Lösung im Fall von Google oder Amazon heisst natürlich: zerschlagen – Punkt! Jede weitere Firmenübernahme durch die GAFA-Riesen schnürt kleineren Unternehmen die Luft ab und steigert ihr Innovationsrisiko. Ähnlich argumentieren sie im Fall von Facebook, weil sie sagen, eine starke Firma wie Facebook mit einer großen und zentralen Datenbank verringere das Risiko des Datenklaus – aber nur, wenn Facebook strenger reguliert wird. In ihren Augen ist Facebook ein Medienunternehmen wie ein Fernsehsender oder eine Tageszeitung. Das würde für Facebook bedeuten, dass sie viel strenger beaufsichtigt und für die Folgen von Falschinformationen – die vielzitierten „Fake News“ – zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Dazu würde so etwas wie eine Gegendarstellungspflicht gehören. Facebook scheut verständlicherweise die zu erwartenden hohen Kosten, aber langfristig wird wohl daran kein Weg vorbeiführen.
In einem aufsehenerregenden Aufsatz in der Zeitschrift American Affairs zitiert der Wirtschaftsjurist Prof. Frank Pasquale von der Maryland-Universität den österreichischen Nationalökonom Friedrich August von Hayek (1899-1992), der das Wissensproblem ins Zentrum seiner Kritik der sozialistischen Planwirtschaft stellte. Da in einer arbeitsteiligen Gesellschaft auch das Wissen aufgeteilt sei, könnten einzelne Planer das Gesamtsystem nicht bis ins Detail überblicken. Nur der Wettbewerb könne zur systematischen Aufdeckung neuen Wissens führen („Entdeckungsverfahren“). Folglich sei nur eine dezentrale, auf dem Wettbewerbsprinzip aufgebaute Marktwirtschaft in der Lage, das Wissensproblem zu lösen.
Im Internet-Zeitalter sei das aber anders, argumentiert Pasquale. Künstliche Intelligenz und Massenüberwachung eröffneten ganz neue Möglichkeiten zentraler Planung. Amazon wertet Milliarden von Transaktionen aus und weiß deshalb fast alles über seine Kunden und Lieferanten, kann also Besucher seiner Homepage gezielt zu Produkten leiten, wie ein Hirte seine Rindviecher in den Stall treibt. Mark Zuckerberg führt die persönlichen Informationen der Nutzer nicht nur von Facebook, sondern auch der zu seinem Konzern gehörenden Plattformen Instagram und WhatsApp zusammen und erstellt so passgenaue Persönlichkeitsprofile, die er in Zukunft nicht nur über das World Wide Web, sondern dank Smartphone-Tracking und Fingerabdruckerkennung mit der „realen Welt“ korrelieren kann. Google hat solche Datenmassen angehäuft, dass Wettbewerbshüter bereits anfangen, von einem „Daten-Monopol“ zu reden. Google weiß ja nicht nur, was jeder von uns denkt und will; es weiß auch, was andere Unternehmen suchen, kaufen und planen. Der Abgleich dieser Daten eröffnet Google eine Machtfülle, gegen die Standard Oil oder AT&T wie Waisenknaben aussehen.
Wenn man Hayek folgt, mag der Aufstieg mächtiger Infomediäre, wie Google, Amazon, Facebook oder Apple, wie eine logische Weiterentwicklung des kapitalistischen Prinzips aussehen. Ist sie aber nicht. Was Sorgen machen muss, ist das schiere Ausmaß der informationellen Ausbeutung, die GAFA und Konsorten betreiben. Die Rekordstrafe von 2,4 Milliarden Euro, die EU-Wettbewerbshüter im Sommer 2017 gegen Google verhängt haben, weil das Unternehmen angeblich seine eigenen Angebote in den Suchergebnissen höher einstufte als die der Konkurrenz und sich damit einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschafft hat, ist im Grunde nur ein kleiner Anfang. Untersucht wird inzwischen auch, wie es Google und Facebook schaffen, sich Monat für Monat im Schnitt zwei weitere Unternehmen einzuverleiben – ein geradezu aberwitziges Expansionstempo! Verbraucherschützer warnen vor manipulierter Werbung, Datenschützer vor immer größerer Transparenz.
Ich denke, es ist klar, dass die Flut von sozialer und wirtschaftlicher Kritik an GAFA und anderen Online-Unternehmen in den nächsten Jahren verstärken und Staat und Gesellschaft zu Gegenmaßnahmen zwingen wird. Wir können nur hoffen, das unsere Politiker den Ernst der Lage erkennen – und behutsam vorgehen. Denn wer mit dem Holzhammer draufhaut, könnte dem World Wide Web, wie wir es kennen, einen irreparablen Schaden zufügen. Dagegen könnten GAFA & Co. am Ende als das kleinere Übel dastehen.