Was habe ich den Kerl beneidet, damals in den späten 60ern. Um seine Freundin nämlich, Uschi Obermaier, die mit den hübschen kleinen Brüsten, die sie stolz in jede Kamera reckte, drunter die hautengen Jeans, die einen makellosen Po umhüllten und dieses kecke, In-your-face Lächeln.
Angeblich schlief sie je mit jedem in der Kommune I, aber das kann auch Fake News gewesen sein. Wichtig war nur, dass sie nicht mit mir schlief, obwohl ich wild davon träumte in meiner spätpubertären Studentenzeit. Aber sie saß ja in Berlin mit diesem Langhans in einer besetzten Wohnung, und ich saß in Heidelberg und blockierte Straßenbahnen, organisierte Rote-Punkt-Aktionen und diskutierte bei der SDS, der Sozialistischen Deutschen Studentenschaft, wo wir bis tief in die Nacht die kommende Revolution planten.
Aus der Revolution ist nun ja leider nix geworden, und ihr Typ von damals, der mit der Mähne, schwärmte letztes Jahr zu ihrem 70er von dem tollen Sex, den er damals mit ihr gehabt habe. Und ich habe ihn wieder beneiden müssen.
Ansonsten war für mich als Münchner Rainer Langhans ein Teil des Stadtbilds, so wie die Mariensäule, der Siegestor oder das Café Extrablatt in Schwabing, wo er manchmal am Nebentisch saß und wie ich etwas übernächtigt seinen Capuccino trank. Wir saßen sogar einmal im Flieger nebeneinander, ich weiß nicht mehr von wo oder wohin, aber er war mit irgendeinem Filmscript beschäftigt, und so kamen wir nicht ins Gespräch.
Dafür habe ich aber jetzt ein interessantes Buch von ihm gelesen. Na ja, nicht direkt von ihm, sondern von Christa Ritter. Sie ist seit 1978 Mitglied in seinem „Harem“, in dem sich nicht etwa ein Mann fünf Frauen teilt, wie sie betonen, sondern fünf Frauen sich einen Mann teilen. Eigentlich müsste ich da schon wieder neidisch werden, aber in meinem Alter stellt man sich ein solches Leben eher wie eine schwere Last vor als wie eine leichte Lust. Ich hab‘ mit einer mehr als genug…
Jedenfalls muss Christa dauernd mit dem Notizbuch in der Hand rumgelaufen sein und hat sich die kleinen, manchmal witzigen, manchmal frechen, manchmal tiefgründigen und manchmal absolut trivialen Sprüche aufgeschrieben, die Rainer so im Laufe der Jahre von sich gegeben hat. Sie hat sie jetzt in einem Buch veröffentlicht, das den Titel „#SOISTS“ trägt. Es ist so ein Buch, das man sich auf den Nachtisch legt, um sich abends vor dem Schlafengehen zwei, drei solcher Sprachvignetten reinzuziehen, bevor man das Licht ausmacht.
Eigentlich ist es ein auf Papier gedruckter Blog: Genau solche kleinen, in sich abgeschlossenen Wortbeiträge, in denen das Aktuelle kommentiert und dem Vergangenen nachgetrauert wird, Begegnungen beschrieben und Zufälle gefeiert werden. Die Beiträge tragen Titel wie „Wiedergeburt“ (über dem Umzug von Berlin nach München), „Utopie“ („über das Linksein, Sex, Drogen, Musik und Kultur“) oder „Altliebe“. Letzteres ist besonders interessant, weil Langhans darin eine wichtige Brücke schlägt zwischen der (gescheiterten) Revolution von 1968 und der digitalen Revolution der Neuzeit, von der wir ja noch nicht wissen, wie sie ausgehen wird.
„Das Internet geht weit über eine Weltreligion hinaus und dient uns allen als ein Tool zur ansatzweisen Wiedergeburt des 68er Geistes“, schreibt er. Das Internet habe sich aus der 68er Erfahrung der grenzenlosen Kommunikation aller materialisiert, was bedeutet, dass wir uns rasant aufeinander zu bewegen. Die Menschheit, meint er, befinde sich auf dem Weg zur ganz großen Liebe, zur Allliebe, zum Allwissen, zur Göttlichkeit. Womit er sich offenbar einig ist mit Stewart Brand, einem noch älteren Urgestein, der einmal über die digitale Zukunft schrieb: „Wir sind schon wie Götter – warum sollten wir nicht auch gut darin werden?“
50 Jahre nach Gründung der Kommune I, so Langhans, fangen wir heute an zu erkennen, dass die Revolution von damals nicht etwa gescheitert ist, wie wir alle (ich inklusive) gedacht haben. Sie hat gewonnen: „Neue Menschen beginnen, eine neue Welt zu besiedeln. Bewusst gemacht hat uns dies erst das Internet.“
Da sich die Jüngeren von uns heute bereits weitaus mehr in der Schönen Neuen Welt des Internet als in der alten, materiellen Welt bewegen, werde das Private politisch – was ja damals eine der Kernforderungen der 68er-Bewegung war. Die Kommunen von damals heißen heute Communitities, ansonsten aber sei alles gleichgeblieben: Es ist keine neue Revolution, wie die Netzaktivisten fordern. Nein, sagt Junghans, die Jungen werden diese postrevolutionäre Welt mit ihrer Kreativität ausgestalten.
Als Alt-68er finde ich solche salbungsvollen Töne natürlich beruhigend, weil sie unserem wilden Treiben von damals nachträglich etwas Sinn verleihen. Aber irgendwo nagt in mir eine kleine Stimme die sagt: Wir haben’s doch eigentlich nur gemacht, weil es tierisch Spaß machte. Und wenn du natürlich dabei noch mit Uschi Obermaier schlafen konntest, dann hat sich das Ganze doch ohnehin ausgezahlt.
Ich hoffe nicht, dass ich hier die Hoffnungen zu hochgeschraubt habe. Es sind die Erinnerungen eines alten Mannes, der sein Leben ein letztes Mal Revue passieren lässt, und wie alle Lebenerinnerungen alter Männer werden die Jungen sie wahrscheinlich grauslich und öde finden. Was schade ist, denn eigentlich sind wir Alten doch dazu da, unsere Lebeserfahrungen mit den Nachrückenden zu teilen und so ihr Blickfeld zu erweitern – aber nicht, ihnen den Weg zu weisen. Den werden sie schon selbst finden.
Vorgestern auf der CeBIT saß ich mit einem bezaubernden Mädchen zusammen, das so intelligent wie schön war, und die vor allem ganz genau verstanden hat, was Digitale Transformation bedeutet. Sie hat ihre Masterthesen gerade abgeschlossen und arbeitet für eine heiße junge Unternehmensberatung in Frankfurt, hat selber auf der CeBIT einen Vortrag gehalten und saß während meines Referats mit ihren großen blauen Augen da und las mir die Worte fast von den Lippen ab. Sie kam anschließend zu mir, wir haben geredet, und ich schwadronierte altklug davon, dass es ja immer wieder solche Transformationen geben habe, und ich kramte in meiner Erinnerungskiste nach Beispielen. „Ja“, sagte sie, „das ist sicher ganz interessant. Aber wissen Sie: Für mich ist es die allererste Transformation, die ich erlebe. Ich denke, da muss ich selber durch.“
Ob Uschi in dem Alter auch solche schlauen Sätze sagen konnte? Darüber hätte ich in Rainers Buch auch gerne etwas gelesen…