Digitale Transformation – ein Weckruf

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Skizze Katharine Eichler

Warum tun sich manche Unternehmen so schwer, mit den Veränderungen des Digitalzeitalters zu Recht zu kommen, und warum sind andere erfolgreich. Warum ist Apple heute mehr wert als GE, Wal-Mart, GM und McDonald’s zusammen? Und vor allem: Warum gibt es kein einziges deutsches Unternehmen, dass es mit den „Big 4“ – Apple, Google, Facebook und Amazon – aufnehmen kann?  Schlafen sie in den deutschen Vorstandsetagen? Ist der deutsche Unternehmer besonders zukunftsresistent? Sind die deutschen ein Volk von Technik-Muffeln, und was bedeutet das für die Zukunft des Standorts Deutschland und den Wohlstand in diesem Land?

Wenn heute jeder Hund den Begriff „Industrie 4.0“ durchs Dorf zu bellen scheint, warum haben dann ein Drittel aller Chefs von deutschen Fertigungsunternehmen noch nie davon gehört? Warum verlangen 70 Prozent aller Führungskräfte hierzulande von ihren Mitarbeitern absolute Präsenzpflicht während der Bürostunden? Warum klammern sich die Gewerkschaften an den Acht-Stunden Tag und bekämpfen jeden Versuch, statt dessen beispielsweise Wochenarbeitskonten einzuführen, wie es die fortschreitende Digitalisierung sowie neue Arbeitsmodelle zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie eigentlich längst möglich und wünschenswert machen?

Kein Zweifel: Die Zukunft nicht nur dieses Landes wird von Digitaltechnik geprägt sein. Das Internet hat in den vergangenen 20 Jahren bereits tiefgreifende Veränderung ausgelöst, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was sich in den nächsten 20 Jahren tun wird. Vernetzung und intelligente Systeme werden einen riesigen Wachstumsschub auslösen, von dem aber nur diejenigen profitieren werden, die rechtzeitig einen Gang hochgeschaltet und die sich bietenden Chancen ergriffen haben.

Deshalb sei die Frage erlaubt: Sind wir Deutschen für die Digitale Transformation der Wirtschaft gerüstet? Kann es in diesem Land so etwas wie ein digitales, ein „Wirtschaftswunder 2.0“ geben? Oder haben deutsche Unternehmen und deutsche Unternehmer zu viel Angst vor der Zukunft – und sie lassen sie deshalb an sich vorbei ziehen.

Leider sieht es ganz so aus. Nein, damit sind nicht alle Unternehmen in diesem Land gemeint. Und ja, es gibt auch heute noch Unternehmer mit Weitblick und Mut. Aber sie sind leider in der verschwindenden Minderzahl. Die Mehrheit, nämlich 70 Prozent von ihnen, wollen nicht, dass ihre Mitarbeiter selbst bestimmen dürfen, wann und wo sie arbeiten. Sie verlangen stattdessen von ihnen Präsenzpflicht: Ihr habt gefälligst um neu am Schreibtisch zu sitzen und dürft das Haus nicht vor 17 Uhr verlassen. Diese „Nine2five“-Mentalität stammt aus einem anderen Jahrhundert und hat in einer Welt, in der das Internet den Takt angibt und den Menschen viele neue Freiheiten gibt, einfach nichts zu suchen.

Geschwindigkeit ist in dieser neuen Welt Trumpf: Daten und Bilder rasen in Sekundenbruchteilen um die Welt und können deshalb überall und jederzeit abgerufen werden: Im Büro, aber auch zuhause im „Home Office“ oder notfalls im Starbucks oder im Englischen Garten. Dazu braucht es dicke Leitungen, am besten solche aus Glasfaser, die in der Lage sind, auch in Zukunft die unvorstellbaren Datenmengen zu transportieren, die für die Wirtschaft das „Erdöl des 21sten Jahrhunderts“ darstellen.

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Doch Deutschland lag 2014 in punkto Breitbandausbau unter den OECD-Ländern weltweit an vorletzter Stelle. Nur 1,1 Prozent der Haushalte hatten schon Anschluss an die Zukunft. Und auch zwei Jahre später sieht es nicht wirklich sehr viel besser aus. Laut Statistischem Bundesamt sind die deutschen „Hicghspeed“-Netze im internationalen Vergleich quälend langsam. Im Durchschnitt tröpfeln gerade mal 14,1 MBit pro Sekunde durch die hiesigen Leitungen. Damit liegt Deutschland auf Rang 25…

Empfangen werden diese Daten heute vorwiegend auf handlichen, mobilen Endgeräten wie Smartphones oder Tablets. Der Anteil der Smartphone-User betrug in Deutschland Ende 2014 mehr als 70 Prozent bei Menschen unter 49. Am PC sitzen wir immer seltener. Wir haben die Kabel sozusagen abgeschnitten, die uns früher an den Schreibtisch gefesselt haben, und sind hinausgetreten in eine Zukunft, in der selbst die beste Zeit und den besten Ort zum Arbeiten finden und bestimmen darf. Der eine ist morgens um fünf am produktivsten, der andere spät in der Nacht. Der eine sitzt gerne auf seinem Hometrainer und tritt in die Pedale, wenn er Akten liest oder Tabellen prüft, der andere liegt vielleicht lieber in der Hängematte.

„Faulenzer“: Das ist die Standardreaktion deutscher Vorgesetzter, die ihre Leute deshalb ins Büro beordern, wo man sie im Auge und damit vermeintlich unter Kontrolle hat. Sie wissen nichts von der „Boss-Taste“, die schlagartig Börsenkurse, Pornobildchen oder die eBay-Auktion vom Arbeitsbildschirm verschwinden lässt, sobald der Chef im Anmarsch ist; statt dessen erscheint wieder die SAP-Maske oder die Tabellenkalkulation, an der man ja zwischendurch auch immer wieder arbeitet – aber nicht unbedingt dann, wenn der Vorgesetzte es will.

Solche Szenen künden von einem abgrundtiefen Misstrauen deutscher Führungsverantwortliche ihren Mitarbeitern gegenüber – die das natürlich wissen und deshalb sich einen Sport daraus machen, den Chef zu überlisten. In einer digital transformierten Arbeitswelt haben solche Katz- und Maus-Spielchen nichts zu suchen. Wenn Chef und Mitarbeiter auf Augenhöhe mit einander umgehen, sind sie auch gar nicht mehr nötig: Wenn beide wissen, welche Ziele erreicht werden müssen, dann kann der eine ruhig loslassen, weil er weiß, dass der andere weiß, was von ihm erwartet wird. Nur dass er selbst bestimmen darf, wann und wo er die Aufgabe erledigt.

Digitale Transformation verlangt von beiden ein Umdenken. Aber wer als Chef nicht dazu bereit oder in der Lage ist, macht sich selbst zum Problem, für das eine Lösung gesucht werden muss. Und zwar möglichst schnell…

Aber auch auf die Mitarbeiter kommt eine neue Situation zu: Er oder sie müssen zunehmend eigenverantwortlich handeln und es sich gefallen lassen, dass der Preis für die neue Freiheit und Selbstbestimmung in Nachvollziehbarkeit bezahlt wird. Er sich zu ergebnisorientierter Arbeitsorganisation verpflichtet, muss sich auch daran messen lassen, ob das Wunschergebnis erreicht worden ist. Er wird lernen müssen, in vernetzten Teams zu arbeiten, deren Mitglieder womöglich über den halben Globus verstreut sind – oder im Büro nebenan. Ist ja egal, wo einer sitzt…

Und die Mitarbeiter von morgen werden sich anstrengen müssen, mitzukommen in einer Welt, in der die Messlatte der beruflichen Qualifikation immer weiter hinauf gelegt wird. Für Mittelmaß ist in der digital transformierten Arbeitswelt zunehmend weniger Platz. Oder, wie es der Werkmeister einer schwäbischen Maschinenfabrik in einem Interview der WirtschaftsWoche kürzlich formulierte: „Wer 15 Jahre dieselben Handgriffe gemacht hat, mag es zuerst nicht glauben, dass es für alle leichter wird, wenn alle mehr können.“

Statt Chancen zu erkennen und sie zu ergreifen verfallen deutsche Unternehmen beim Stichwort „Digitalisierung“ in eine Art Angststarre. In seiner Studie d!conomy: Die nächste Stufe der Digitalisierung, die zur CeBIT 2015 erschien, stellt der IT-Branchenverband BITKOM ernüchtert fest: „Jedes fünfte Unternehmen bangt um seine Existenz“ und stellt die ketzerische Frage: Ist die Digitalisierung eine Gefahr für die Wirtschaft?

Immerhin ist der großen Mehrheit deutscher Unternehmen wenigstens klar, dass die Digitalisierung Wirtschaft und Gesellschaft umfassend verändert. Aber ziehen sie daraus die richtigen Schlüsse? Eher nein.

Die Big 4: Kapitalismus im Internettempo

Andererseits gehen deutsche Unternehmer sehenden Auges in eine Zukunft, die nicht mehr von Firmen definiert wird, die einst zu den Säulen des Wirtschaftswunders hiesiger Prägung dominiert werden, sondern von einem neuen Typus von globalen Konzernen, die scheinbar alle gängigen Regeln auf den Kopf stellen. Der Einfachheit halber bezeichnen wir diese als die „Big 4“, nämlich Apple, Google, Amazon und Facebook. Jedes dieser Unternehmen hat auf ihre Weise demonstriert, dass das, was man vielleicht am besten als „Kapitalismus 2.0“ bezeichnen sollte, die Weg in die Zukunft von Wirtschaftswachstum und künftigem Wohlstand weisen. Wir sollten alle von ihnen lernen.

Der Economist hat die Big 4 einmal mit Meeresungeheuer verglichen. „Niemals zuvor hat die Welt Firmen gesehen, die so schnell gewachsen sind oder ihre Tentakel so breit ausgestreckt haben.“ Sie gehören zu den kapitalstärksten Unternehmen, die die Welt je gesehen hat. Und sie sind nicht nur groß, sie haben auch viel Geld auf der hohen Kante – Apple allein fast 200 Milliarden Dollar!

Apple ist heute der Koloss des Kapitalismus. Vor 20 Jahren stand die Firma vor dem Bankrott, heute ist sie die erste Firmen der Welt, deren Kapitalwert an der Börse über 700 Milliarden Dollar liegt – ein Fünftel des S+P 500. Apple ist heute Apple mehr wert als GE, Wal-Mart, GM, und McDonald’s zusammen!

Google ist der Weltmarktführer in Search und Online-Werbung. Allerdings hat die Firma bereits vor Einbrüche 2015 gewarnt. Der Online-Werbekuchen wächst zwar, aber immer mehr wollen ein Stück davon abhaben: Anbieter wie artoo, Teoma und Wondir – wollen Google mit einer benutzerfreundlicheren Bedienerführung, einer verbesserten Suchtechnik oder schlichtweg mit relevanteren Fundstellen Paroli bieten. Google ist  deshalb ständig auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern. Das Handy-Betriebssystem Android hat es ja innerhalb von wenigen Jahren auf die weltweite Spitzenposition geschafft.

Amazon ist auf dem besten Weg, die Vision von Gründer Jeff Bezos zu erfüllen und zum größten Handelsunternehmen der Welt zu werden. Er hat ja eigentlich nur zufällig mit Büchern angefangen, aber mittlerweile bekommen Sie bei Amazon ja fast alles. Aber Amazon will mehr und expandiert in alle Richtungen. In den USA vermittelt Amazon inzwischen Handwerker über seinen neugegründeten Dienst „Amazon Home Services“. Und mehr oder weniger unbemerkt hat Amazon sich inzwischen zum heimlichen Weltmarktführer bei Cloud Computing entwickelt, also dem Angebot von Computer-Dienstleistungen und Infrastruktur über riesige dezentrale Rechenzentren. Das sozusagen als Abfallprodukt des eigentlichen Kerngeschäfts, dem Onlinehandel, der ja auch riesige IT-Kapazitäten erfordert.

Facebook ist natürlich das Aushängschild der weltweiten Bewegung, die als „Social Media“ bekannt ist und über die inzwischen ein Großteil der persönlichen Kommunikation weiter Teile der Menschheit läuft. Wäre Facebook mit seinen rund 1,4 Milliarden Nutzern ein Land, wäre es das zweitgrößte der Welt nach China und vor Indien.

Facebook bleibt auch weiterhin die mit Abstand populärste Social Media Plattform, auch wenn das Wachstum in letzter Zeit deutlich langsamer läuft, vor allem unter jungen Nutzern. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Facebook, das wegen seines, sagen wir mal, lockeren Umgangs mit den persönlichen Daten seiner Kunden heftig kritisiert wird, neuerdings vor allem gegenüber Konkurrenten Anteile abgeben muss, die ihren Nutzern mehr Kontrolle über ihre Informationen versprechen. Snapchat, ein Messaging-Dienst, erlaubt es seinen Usern festzulegen, dass Texte oder Bilder, die sie ihren Freunden schicken, nach dem einmaligen Anschauen sofort dauerhaft gelöscht werden. Das kommt gerade bei jungen Leuten gut an. 2013 lehnten die Snapchat-Gründer ein Angebot von Facebook ab, die ihnen 3 Milliarden Dollar in Cash zahlen wollten. Experten wie Dr. Stephen Wicker von der Cornell-Universität behaupten, dass Privatheit in Zukunft ein wichtiges Geschäftsmodell sein wird: Menschen werden bereit sein, zumindest ein bisschen dafür zu bezahlen, dass ein Anbieter ihre persönlichen Daten schützen.

Die Big 4 sind inzwischen weltweit in die Kritik geraten, wenn auch aus jeweils verschiedenen Gründen. Drei Trends sind es vor allem, die Wettbewerbshüter und Verbraucherschützer auf die Palme bringen.

  1. „The winner takes it all“: Die Big 4 sind in ihren jeweiligen Kernmärkten rasend schnell gewachsen und haben bereits oder drohen eine marktbeherrschende Stellung einzunehmen. Microsoft hat vergeblich Milliarden in seine Suchmaschine „Bing“ gesteckt – trotzdem wächst Google weiter und beherrscht in Amerika zwei Drittel und in Europa sogar 90 Prozent des Suchmaschinenmarktes. Facebook hat sich im Social-Web ebenfalls ein Quasi-Monopol geschaffen.
  2. „Kunden süchtig machen“: Wie gute Drogenhändler bemühen sich die Big 4 darum, Kunden auf ihren Plattformen „anzufixen“, indem sie ein dichtes Netz von zusätzlichen Online-Diensten und Smartphone-Apps um den Verbraucher herum spinnen, um diese möglichst eng an sich zu binden. Apple ist vor allem deshalb so erfolgreich, weil es ihnen gelungen ist, das iPhone sozusagen zu einer Fernbedienung für das Digitale Leben zu machen. Apple ITunes wurden Absprachen mit den großen Musik-Multis vorgeworfen, also im Grunde klassisches „price fixing“. Wettbewerbsrechtler befürchten, dass die Big 4 ihre jeweilige Übermacht dazu missbrauchen werden, so genannte „Walled Gardens“ zu schaffen, aus denen Verbraucher nicht mehr entkommen können.
  3. „Innovation ausbremsen“: Mit ihren prall gefüllten Kriegskassen können sich die Big 4 leisten, potenzielle Konkurrenten frühzeitig zu übernehmen und einzustellen. Das machen beileibe nicht nur die Big 4 so: Microsoft kaufte Anfang des Jahres den Musik-Streaming-Dienst LiveLoop und schloss ihn sofort. Sony machte das Gleiche mit ihrem Übernahmeobjekt OnLive, einem innovativen kleinen Anbieter von “Game Streaming”, der zum 30. April 2015 eingestellt wurde. Sämtliche Konten und Daten der Anwender wurden gelöscht und an den eigenen Dienst Playstation Music übertragen.

Die EU würde Google am liebsten zerschlagen. Aber ob das die richtige Antwort auf das unheimliche Wachstum der Big 4 ist, bleibt eher zweifelhaft: Es könnte mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken. Der Grund, weshalb die Großen Vier so erfolgreich sind, ist weil die Menschen das, was sie machen, gut, nützlich oder bereichernd finden. Offenbar sind viele Leute gerne bereit, etwas Offenheit gegen Nutzwert oder Bedienungsfreundlichkeit einzutauschen. Und wenn es ihnen nicht mehr passt, ist es leichter denn je im Zeitalter des Internet, den Anbieter zu wechseln und woanders hinzugehen. Von Google nach Bing oder Yahoo ist es nur ein Mausklick.

Die jüngere Internet-Geschichte ist voll von Beispielen für Firmen, die über Nacht groß geworden und schnell wieder verschwunden sind. Wer erinnert sich noch an MySpace? Dafür war Facebook selbst vor 8 Jahren noch ein Startup. Android hat die scheinbare Übermacht von Apples IOS-Betriebssystem mühelos und in Rekordzeit gebrochen. Facebook, Apple und Microsoft haben ein begieriges Auge auf Googles Suchmaschinen-Dominanz geworfen. Wer weiß, was noch kommt?

Die neuen Räuberbarone

Joseph Schumpeter lag vielleicht richtig mit seiner Idee der „schöpferischen Zerstörung“: Kapitalismus ist  für ihn und seine Anhänger ja Unordnung, die fortwährend durch innovative Unternehmer entsteht, die neue Ideen in den Markt tragen. Aus dieser Unordnung entstehen Fortschritt und Wachstum.

Die Technologiebranche liefert laufend Beispiele für solche kreative Unordnung. IBM und Apple in den 80ern, Microsoft und Netscape in den 90ern, die Big 4 im 21sten Jahrhundert: Stets geht es ja darum, sich einen Vorteil auf Kosten der anderen zu verschaffen. Anfangs blieb jeder noch brav bei seinen Leisten: Google machte Suche, Apple baute Computer, Amazon verkaufte Bücher und Facebook machte die Leute zu Freunden. Heute sieht die Welt der Big 4 aus wie eine Landkarte aus dem Mittelalter, wo jeder gegen jeden kämpft oder sich mit dem einen gegen den anderen verbündet, ums ich strategischen Vorteile zu verschaffen.

Es gibt eine deutliche Parallel zur Ära der so genannten „Robber Barons“, der Räuberkapitalisten, die das so genannte „Gilded Age“ in Amerika um die Wende von 19ten zum 20sten Jahrhundert geprägt haben. Der Wilde Weste war gezähmt, und diese großen Männer wie John D. Rockefeller, Cornelius Vanderbilt, Andrew Carnegie und J. Pierport Morgan haben in der Folge Imperien geschaffen und sie skrupellos ausgebeutet.

Historiker werden vielleicht einmal vom „Gilded Age des Internet“ sprechen, eine hektische Zeit ohne feste Regeln und klare Aufsichtsfunktionen, die erst langsam von Regulatoren, vor allem aber vom Markt selbst in geordnete Bahnen gelenkt wurde, und in der Männer wie Steve Jobs, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Larry Page ähnliche Imperien schufen wie ihre Vorfahren ein Jahrhundert zuvor. Uns kommt es vielleicht vor, als gäbe es das Internet schon ewig, aber in Wahrheit stehen wir noch ganz am Anfang.

Zur Zeit werden noch Claims abgesteckt und um wichtige Schlüsselbranchen gerungen. Video, Musik-Streaming, Maps und Navigation, Cloud Services: Das sind einige der Bereiche, in denen der Kampf zwischen den Big 4, aber auch zwischen vielen anderen Hightech-Unternehmen ausgetragen werden. Die Karten werden noch gemischt, und es ist noch nicht endgültig klar, wer das Spiel gewinnen wird.

Deutschland 4.0

Deutschland hat also noch eine, wenn auch nur eine kleine Chance, beim „Great Game“, also bei der Neuverteilung der Welt im Zeitalter von Digitaler Transformation, eine tragende Rolle zu spielen. Aber dazu muss es ein großes Umdenken geben bei Unternehmen und Unternehmern, bei Mitarbeitern und Gewerkschaften, bei Freiberuflern und Handwerkern und in der Politik.

Bislang beschränkt sich die Mitwirkung der politischen Entscheidungsträger weitgehend auf die Ausgabe von Parolen. Wobei sich seltsamerweise eine Zählweise eingebürgert hat, die sonst nirgendwo auf der Welt verwendet wird, und die man deshalb wahlweise als besonders innovativ oder als besonders weltfremd einstufen kann. Die Rede ist von der Gewohnheit, hinter mehr oder weniger beliebigen Begriffen die Bezeichnung „4.0“ anzuhängen. Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Frühjahr 2015 die anwesenden Entrepreneure, Ökonome und Wirtschaftspolitiker, die „Verschmelzung der Welt des Internet mit der Welt der industriellen Produktion schnell zu bewältigen“, weil sonst diejenigen, die führend im digitalen Bereich sind, „uns die Produktion wegnehmen werden.“

Sie verwies dabei auf eine Studie des IT-Branchenverbands BITKOM, wonach angeblich vier von zehn Unternehmen in Deutschland bereits Anwendungen einsetzen, die man unter dem Begriff „Industrie 4.0“ subsummieren könnte. Was sie vergessen hat zu erwähnen war, dass ein Drittel der produzierenden Betriebe den Begriff „Industrie 4.0“ angeblich noch nie gehört haben oder jedenfalls nicht wissen, was sie darunter verstehen sollen. Winfried Holz, Mitglied des BITKOM-Präsidiums, unterstrich bei der Präsentation der repräsentativen Umfrage unter 505 Geschäftsführern und Vorständen aus Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeitern wieder einmal, dass die Zukunft einzelner Branchen und des Wirtschaftsstandortes Deutschland maßgeblich davon abhängen, wie zügig es gelingt, die klassische Produktion zu digitalisieren. Wer sich jetzt nicht mit dem Thema auseinander setze, könne den Anschluss verpassen, warnte Holz. Besonders nachdenklich mache ihn die Tatsache, dass 37 Prozent der deutschen Unternehmen haben bislang keine Digitalstrategie hätten. Das Wirtschaftsmagazin aquisa fasste es so zusammen: „Unternehmen aus Deutschland taugen im digitalen Zeitalter nur bedingt als Vorbilder.“

Nach „Industrie 4.0“ erfand das Arbeitsministerium in Berlin im Frühjahr 2015 den komplementären Begriff „Arbeiten 4.0“ und zeigte damit, dass in Deutschland die politischen Uhren anders laufen als im Rest der Welt – und nicht unbedingt schneller. Immerhin erkannte Arbeitsministerin Andrea Nahles in ihrer Eröffnungsrede an, dass veraltete und übertriebene Reglementierung eine Hauptursache sei dafür, dass es in Deutschland mit alternativen Konzepten in der Arbeitsorganisation wie Home Office oder „Work on Demand“ nicht so weitergeht wie erhofft. Vorschriften aus der digitalen Steinzeit wie die Bildschirmrichtlinie oder die Arbeitsplatzverordnung müssten auf den Prüfstand, meinte sie. Aber wann? Das hat sie nicht gesagt…

Dabei hat die moderne Arbeitsorganisation die deutsche Behördenwirklichkeit längst überholt. Der frühere BITKOM-Chef Prof, Dieter Kempf machte sich im Gespräch mit dem Autoren unlängst Gedanken darüber, ob seine Gewohnheit, im Zug oder Flugzeug zu arbeiten, nicht von Amtswegen verboten gehört, weil der Abstand zum Rücksitz des vor ihm sitzenden Passagiers nicht immer den geforderten 450 mm betrage. Und ob die Sessel im Starbucks Café wirklich der DIN EN 1335-1 („Büro-Arbeitsstuhl“) aus den 70er Jahren entspricht, ist höchst zweifelhaft.

Solche Reformen, sollten sie je in Angriff genommen werden, kratzen ohnehin nur an der Oberfläche der Anpassung der Ordnungsrahmen an die digitale Wirtschaft im zweiten Jahrzehnt des 21sten Jahrhunderts. Angefangen beim Steuerrecht (wo so genannte „cyber-physikalische Systeme“ wie Werkbänke oder Hebebühnen und nicht wie Computer behandelt und abgeschrieben werden) über das Haftungsrecht (wer ist schuld, wenn ein selbststeuernder Roboter Sachschaden anrichtet oder einen Menschen verletzt?) bis zum Datenschutz (wem gehören Daten, wenn ein Lieferant ein Ersatzteil auf dem 3D-Drucker des Kunden „bauen“ lässt?) hinkt der deutsche Ordnungsrahmen weit hinter dem digital Machbaren her.

Und es hat auch keinen großen Sinn, auf entsprechende Initiativen der übergeordneten EU-Instanzen zu warten – gesehen davon, dass beispielsweise die EU-Datenschutzgrundverordnung, die ab 2016 gelten soll, ohnehin nur bei Betrieben mit mehr als 250 Mitarbeitern wirklich greifen wird und somit für den deutschen Mittelstand, zu dem bekanntlich 99,7 Prozent aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen gehören, ohne Belang sein wird. Ohnehin krankt Internetpolitik auf EU-Ebene an dem gleichen Kompetenzwirrwarr und dem Beharren der Mitgliedsstaaten auf die Wahrung ihrer nationalen Kompetenzen wie an anderen Stellen auch, etwa in der Landwirtschafts- oder Außenpolitik. Dazu kommt, dass der amtierende EU-Digitalkommissar Günther Oettinger, ein echter Schwabe, eher in industriellen Lösungen von oben denkt, und Kritiker werfen ihm deshalb vor, das Wesen des Internets mit seinen dezentralen Strukturen nicht wirklich verstanden zu haben.

Echter digitaler Fortschritt kommt von unten, und er lässt sich kaum zentral steuern. Aber leider fehlt in Deutschland der notwendige Gründergeist, um einen Boom wie beispielsweise in den USA zu tragen. Die so genannte Gründerquote, also der Anteil der Gründer an der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 65 Jahren, sank von einem Allzeithoch in den Jahren der „Dotcom-Blase“ 2001/2002, wo sie zwischendurch bei fast drei Prozent lag, bis 2012 auf mickrige 1,5 Prozent. Zwar steigt die Quote seitdem wieder leicht an, aber als Garant für die wirtschaftliche Zukunftssicherung in Deutschland ist der fehlende Elan deutscher Gründer ein Armutszeugnis.

Treppenwitz: Geht ein Startup zur Bank…

Und selbst wenn ein junger Deutscher eine Idee hat, werden ihm bei der Realisierung regelmäßig Knüppel zwischen die Beine beworfen. „Geht ein Startup-Gründer zur Bank“, lautet der kürzeste Witz in der Finanzbranche. Nur zehn Prozent aller Gründer, die im Rahmen des Startup Monitors 2014 des Bundesverbands Deutscher Startups (DSM) und der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin befragt wurden, nannten Bankkredite unter ihren Finanzierungsquellen. Unter denjenigen, die seit weniger als zwölf Monate bestanden, waren es sogar nur fünf Prozent Zum Vergleich: Im klassischen Gründungsmarkt greift mehr als ein Viertel aller Gründer auf ein Bankdarlehen zurück.

Deutsche Gründer bezeichnen neben dem schwierigen Zugang zu Kapital vor allem die in Deutschland verbreitete geringe Toleranz gegenüber dem Scheitern als kritisches Hemmnis für die Gründung von Unternehmen. Berlin gilt nicht nur wegen des ewigen Dauerbrenners Flughafen als Hauptstadt des Scheiterns: Hier gehen auch die mit Abstand meisten Startups wieder baden. Was aber daran liegt, dass es hier ja auch die beste Gründer-Stimmung gibt. Das Thema „Scheitern“ sei deshalb in Berlin nicht so stark tabuisiert, wie in anderen deutschen Städten, meint Anna Theil, Geschäftsführerin der Crowdfunding-Plattform Startnext, die das Problem der fehlenden Bankredite dadurch umgeht, dass sie sich direkt an die Geldgeber wendet.

So stellten beispielsweise Tausende Spender rund 110.000 Euro zur Verfügung, um die Idee zweier Gründerinnen aus Kreuzberg zu finanzieren, die sie ein Supermarkt ohne Verpackung gründen wollten, Inzwischen bieten Sara Wolf und Milena Glimbovski in ihrem Laden mehr als 350 Produkte ohne Verpackung oder in Mehrwegbehältern an, von losen Nudeln oder selbst gemahlenen Kaffeepulver bis Gewürze und Süßigkeiten in durchsichtigen Spendern und sogar „Zahnpasta ohne Tube“ (als Kautabletten – „funktioniert genauso“, sagt eine der Gründerinnen).

Und so muss wohl selbst die allgewaltige Finanzbranche auf Dauer fürchten, dass im Zuge der Digitalen Transformation sie und ihr Geschäftsmodell zunehmend marginalisiert werden. „Who needs banks“, titelte das Wirtschaftsmagazin Forbes angesichts der Tatsache, dass ein Viertel aller US-Haushalte inzwischen zumindest teilweise ihre Finanztransaktionen außerhalb des traditionellen Bankensystems abwickeln. So stieg der Umsatz von PayPal, die Bezahl-Tochter von eBay, von 800 Millionen im ersten Quartal 2010 auf über 2,1 Milliarden im vergleichbaren Zeitraum 2015.

Quo vadis digitales Deutschland?

Klar ist: Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen, wenn wir nicht zurückfallen wollen beim Rennen um die Spitzenplätze in der Welt von morgen. Deutschland hat nicht nur einen Ruf zu verteidigen: Wir wollen auch unseren Lebensstandard, der immer noch weit höher liegt als beispielsweise in China und Indien, wo die Menschen sicher genauso fleißig und begabt sind wie wir. Es hilft uns nicht, wenn die Medien ein flaches, eindimensionales Bild der Digitalisierung als Bedrohung zeichnen und, wie die Wiener „Presse“ Anfang des Bilderbuchsommers 2015, ihren Lesern Tipps gibt, wie sie „digitale Sommerferien“ ohne eMail, Smartphone oder Tablett-PC machen können – als ließe sich das Internet einfach zwischendurch mal abschalten , und schon würden die Menschen ins eine stressfreie, goldene Zeit vor Anbeginn der Digitalisierung zurückkehren können. Die Digitalisierung verändert alles – nicht zuletzt uns selbst.

Im Kinderbuch „Alice hinter den Spiegeln“ lässt der Autor Lewis Carroll seine kleine Heldin von der Königin an die Hand nehmen, die daraufhin losrennt und das Kind so lange hinter sich her zerrt, bis es vor Erschöpfung stehen bleibt und sich wundert, dass sie beide immer noch auf dem gleichen Fleck stehen wie vorher. „Bei uns kommt man meistens irgendwo hin, wenn man lange Zeit so schnell rennt wie wir gerade“, sagt sie keuchend. „Ein langsames Land ist das!“, sagt die Königin, „so schnell wie du muss man hier schon rennen, um bloß auf der gleichen Stelle zu bleiben. Wenn du irgendwo hinkommen willst, musst du mindestens doppelt so schnell laufen.“

Wir leben heute im Land hinter dem Bildschirm: Eine Welt, in der wir immer das Gefühl haben, alles läuft viel schneller ab als früher, und wir haben unsere liebe Mühe mitzukommen. Aber die Welt dreht sich weiter, und wir alle sind gefordert, uns anzupassen, flexibel zu sein und aufgeschlossen für das Neue, das uns zunehmend in digitaler Form entgegenkommt. Dabei geht es um nichts Geringeres als um die Zukunft Deutschlands als Wirtschaftsnation und damit auch um die Zukunft von Millionen von Menschen. Wir dürfen sie weder verspielen noch verschlafen, denn wir bekommen von der Geschichte keine zweite Chance.

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