Um Restaurantkritiker zu werden, sagte mir einmal Wolfram Siebeck, der Doyen dieser seltenen und etwas elitären Journalistengattung, musst du zuerst den Gegenwert eines Einfamilienhauses verfressen haben. Dann hast du wirklich Ahnung.
Wie groß das Haus war, das ich selbst verfressen habe, weiß ich nicht, aber es hat mich immerhin in die Lage versetzt, in einem früheren Leben recht gut von dem Schreiben von Rezensionen über Restaurants und Hotels zu leben. Meine mehr oder weniger sachkundigen Meinungsäußerungen wurden immerhin regelmäßig in so angesehenen Organen wie dem Feinschmecker, dem Playboy und dem Diners Club Magazin abgedruckt. Und auch wenn sich der Schwerpunkt meines Schaffens inzwischen in Richtung Internetjournalismus verändert hat, drängt es mich hin und wieder immer doch dazu, nach einem besonderen kulinarischen Erlebnis zur digitalen Feder zu greifen und meine Eindrücke in Textform festzuhalten.
Meistens veröffentliche ich das Ergebnis selbst auf meinem Cole-Blog oder auf meiner Facebook-Seite. Aber in den letzten Jahren habe ich Spaß daran gefunden, Kritiken für TripAdvisor zu schreiben, und ich habe es dort immerhin zu etwas Ansehen gebracht: Ich bin dort als „Profi-Bewerter“ und als „Luxushotelexperte“ geführt, und neulich bekam ich von denen eine elektronische Post, die mich schmunzeln lies: „Glückwunsch“, schrieb man mir, „Sie sind die Nummer eins unter den Bewertern aus St. Michael im Lungau!“
Nun, da St. Michael nur 2000 Einwohner hat, hielt sich meine Freude über diese Auszeichnung in Grenzen. Aber immerhin hat es mir gezeigt: Ich werde gelesen.
TripAdvisor nennt sich die „größte Reise-Website der Welt“ und behauptet von sich, 60 Millionen Mitglieder zu haben, die angeblich jedes Jahr rund 170 Millionen Rezensionen über Restaurants, Hotels und Reisedestinationen hinterlassen. Die Bewertungen werden nach einem komplizierten Punktesystem in eine Rangfolge gebracht, so dass man sich als Besucher der Site nur die jeweils beliebtesten Kandidaten in einer Stadt oder einer Region anzeigen lassen kann. Natürlich ist man deshalb versucht, sich von TripAdvisor immer nur in die Spitzenlokale leiten zu lassen, frei nach Oscar Wilde, der einmal gesagt haben soll: „Ich bin ein Mann von ganz einfachem Geschmack – ich will von allem nur das Beste…“
In der westirischen Hafenstadt Galway ist das Beste, was die heimische Gastronomie zu bieten hat, nach Ansicht der TripAdvsor-Bewerter das Oran Tandoori, ein etwas unscheinbares südindisches Restaurant in dem etwa 10 Kilometer vom Stadtzentrum entfernten Örtchen Oranmore. Um dorthin zu kommen, mussten meine Frau und ich ein Taxi nehmen, was gute 20 Minuten dauerte und die Rechnung für das abendliche Essvergnügen um rund 40 Euro (hin und zurück) verteuerte.
Das Essen war sehr gut, vor allem wenn man wie wir die authentische indische Küche liebt, und die Wirtsleute waren sehr freundlich und sehr bemüht, wie alle Inder, die ich kenne. Aber am Ende des Tages war es halt auch nur ein gutes indisches Restaurant von der Sorte, wie man sie beispielsweise in London an jeder zweiten Straßenecke findet. Und das soll die Nummer eins in ganz Galway sein?
Nun kommen meine Frau und ich familienbedingt (unsere Tochter lebt mit ihrem Lebensabschnittsbegeiter und unsere einzigen Enkeltochter im benachbarten Headford) relativ oft nach Galway, und da wir nun mal gerne essen gehen, kennen wir so ziemlich alle guten Restaurants in der näheren Umgebung von Galway, beispielsweise die legendäre Oyster Cottage, die „Austernhütte“ in Kilokolgen, wo die tüchtige Sippe der Morans seit sieben Generationen die besten Austern der Welt servieren, direkt vor dem Lokal aus dem Atlantik gefischt, oder das Loam in einem Keller in der Altstadt von Galway, das einen Michelin-Stern trägt und wo das Abendmenü für irische Verhältnisse stolze 60 Euro kostet.
Wieso also steht ein zwar guter, aber eben doch nur recht gewöhnlicher Inder bei TripAdvisor an erster Stelle? Darüber habe ich in meiner anschließenden Restaurantkritik nachgedacht, und ich bin zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen: Es liegt ganz einfach daran, dass es den Leuten dort schmeckt!
Daran, so schrieb ich, merkt man, wie sehr sich das Handwerk des Restaurantkritikers inzwischen verändert hat. Zu meiner Zeit gingen wir Kritiker auf die Jagd nach der seltenen Beute des Besonderen, des Ungewöhnlichen, des Einmaligen. Und das mussten wir tun, denn nicht wir entschieden ja darüber, ob unsere Rezension den Weg ins Blatt finden würde, sondern der Chefredakteur.
Das ist übrigens auch der Grund, weshalb man in einem professionellen Gourmetmagazin kaum einmal eine schlechte Bewertung findet: Dem Blattmacher ist der Platz dafür einfach zu schade. Er und seine Auflage leben schließlich davon, dass möglichst viele Leute so neugierig werden, dass sie sich selbst aufmachen und das beschriebene Lokal besuchen. Wenn der Kritiker von vornherein davor warnt, die Bude zu betreten, bleibt der Leser lieber daheim und isst ein Wurstbrot.
Die Aufgabe des Kritikers war es also, früher jedenfalls, aus der Vielzahl der vielen gastronomischen Betriebe diejenigen herauszufiltern, die etwas ganz Besonderes zu bieten hatten. Und deswegen mussten wir unsere Gaumen wie Siebeck schulen, indem wir immer und immer wieder ausprobierten, selbst wenn wir mit dem Erlebten nicht zufrieden waren und das Essen deshalb aus eigener Tasche bezahlen mussten, weil wir das Lokal ja nicht guten Gewissens weiterempfehlen konnten.
Bei TripAdvisor, so schrieb ich, ist das heute ganz anders. Dort ist jedermann Kritiker, und das einzige, was zählt, ist ob es einem geschmeckt hat oder nicht. Kein Bewerter auf TripAdvisor scheut sich, einem Lokal eine schlechte Note zu verpassen, denn so hat er es ja schließlich erlebt! Und umgekehrt: Wenn es gut war, dann nur, weil es den Geschmack des Gasts getroffen hat, egal wie ausgebildet oder verfeinert dieser Geschmack ist.
In Indien, das habe ich bei einem meiner früheren Besuche gelernt, ist die beste Köchin die Mama, beziehungsweise die Ehefrau. Niemand kocht so wie sie, und das stimmt ja auch: Jede indischen Hausfrau bereitet das Essen nach ihrem eigenen Geschmack zu, mischt die Gewürze nach einem Rezept, das sie wahrscheinlich von ihrer Mutter oder ihrer Großmutter geerbt hat. Und da es dem Gatten so am besten schmeckt, lebt in Indien eine Heerschar von „Tiffin-Wallahs“ in den Dörfern am Rande der Großstädte davon, jeden Morgen die Runde zu den Ehefrauen seiner Kunden zu machen und dort das frischgekochte Essen in Blechbehältern entgegen zu nehmen, die er zu hohen Türmen stapelt, um sich damit in den nächsten Zug zu setzen und jedem seiner Kunden das Essen zu bringen, das ihm seine Frau liebevoll zubereitet hat. Anschließend geht er noch einmal herum sammelt die leeren Blechbehälter ein und fährt mit dem Zug zurück ins Dorf, wo er sie bei den Ehefrauen wieder abliefert.
Ich denke, mit dem Oran Tandoori ist es so ähnlich: Das Essen dort ist im Grunde nicht anders als in vielen indischen Lokalen, aber es ist eben doch einmalig, und deshalb pilgern die Leute in Galway gerne immer wieder dorthin und halten das Ergebnis auf TripAdvisor im Form von einer positiven Bewertung fest. Und am Ende steht das Lokal eben auf Platz eins!
Mit einer professionellen Restaurantkritik hat das überhaupt nichts zu tun. Es ist eine spontane Meinungsäußerung, quasi ein zufriedenes Aufstoßen nach dem Essen, ein Prosa-Rülpser. Und es ist ein Beweis für die Demokratisierung der Kritik: Jeder darf mal, und am Ende entscheidet die Mehrheit darüber, was schmeckt und was nicht. Die Stimme des Banausen zählt gleich viel wie die des langjährigen Gourmets, und vor dem Thron von TripAdvisor sind alle Menschen gleich.
Das habe ich geschrieben, und ich habe es bei TripAdvisor eingereicht, denn jede Bewertung muss vor der Veröffentlichung zuerst geprüft werden. Das machen natürlich keine Menschen, sondern Computer – wie soll man sonst 170 Millionen Bewertungen im Jahr abarbeiten? Der Algorithmus ist darauf geeicht, unflätige Ausdrücke und offensichtliche Beleidigungen, Obszönitäten und rassenfeindliche Hetzparolen zu identifizieren und die betreffende Bewertung in den digitalen Orkus wandern zu lassen. Der Autor wird in einer kurzen, aber höflichen Mail drüber informiert, dass seine Bewertung leider nicht den Richtlinien entspreche, die für alle eingereichten Beiträge gelten, und man wird aufgefordert, seinen Text zu überarbeiten und noch einmal einzureichen. Was genau zu beanstanden war, sagt der Computer allerdings nicht. Das muss man als Bewerter irgendwie selbst herausfinden.
Ich habe für meine Bewertung des Oran Tandoori eine solche Mail zurückbekommen. Und ich habe mich darüber ziemlich geärgert. Schließlich stand in dem Text nicht ein einziges böses Wort – im Gegenteil. Die Bewertung schloss mit den Worten: „Leute, schnappt Euch ein Taxi und fahrt hinaus nach Oranmore. Ihr werdet es lieben – egal was ich Euch sage…“
Ob es vielleicht an der Headline lag? Die lautete: „Good is good enough“ – gut ist gut genug. Jedenfalls ist das auf TripAdvisor so. Und das war auch ehrlich gemeint, wie ich im Laufe der Bewertung ausführlich erklärte. Nun ja, gut die Hälfte des Textes beschäftigte sich deshalb nicht mit dem fraglichen Restaurant, sondern mit TripAdvisor selbst und mit den Veränderungen im Berufsbild des Restaurantkritikers. Aber das war, wie ich fand, ein legitimer und relevanter Gedanke, der doch sicher auch andere Leser auf TripAdvisor interessieren müsste, oder?
Nun lässt man sich als User im Zeitalter von Social Media nicht einfach alles gefallen, und so ging ich auf die Facebook-Seite von TripAdvisor und postete dort den Text meiner Rezension in voller Länge, zusammen mit der Herausforderung an die Betreiber, mir bitteschön eine einzige Stelle zu zeigen, die nicht den strengen Richtlinien des Hauses entspräche oder die irgendwelche Obszönitäten enthalte.
Es passierte ein paar Tage lang nichts, dann meldete sich jemand per Facebook Messenger mit der Bitte, ich möge ihm oder ihr meine Mailadresse schicken, denn man wolle die Sache sozusagen bilateral klären. Ich tat wie gebeten, und wiederum ein paar Tage später bekam ich eine ausführliche Mail von einem TripAdvisor-Mitarbeiter namens James, der schrieb: „Ich habe mir den Beitrag selbst angeschaut und kann Ihnen sagen, dass es sich nicht um einen Computerfehler handelt.“ Der Text sei deshalb zurückgewiesen worden, weil er nicht „relevant“ sei. Dann bat er um Entschuldigung und bot an, mir das zu erklären, weil es vielleicht zunächst etwas verwirrend klinge.
„Wir wissen, dass diejenigen, die TripAdvisor besuchen, das aus einem ganz bestimmten Grund tun“, schrieb er. „Sie wollen sehen, wie andere Gäste das Lokal bewerten. Aus diesem Grund bitten wir darum, dass eingereichte Bewertungen ausschließlich auf das Kundenerlebnis fokussiert bleiben. Wir glauben, dass dies die relevanteste Information für andere Gäste ist. Bewertungen, die abschweifen in eine substanzielle Diskussion über andere Themen oder Geschäftsbereiche verstoßen deshalb gegen unsere Richtlinien hinsichlich Relevanz.“
Anders ausgedrückt: Thema verfehlt, Junge! Wir wollen von dir nur wissen, ob es gut oder schlecht geschmeckt hat. Wenn du eine „substanzielle“ Diskussion über irgendwas anderes führen willst, führe es bitteschön woanders. TripAdvisor ist jedenfalls keine ernsthafte Diskussionsplattform, es ist ein Ort eben für Prosa-Rülpser.
Das habe ich James sinngemäß auch zurückgeschrieben und dazu gesagt, dass ich das ziemlich altmodisch finde. Wir leben im 21sten Jahrhundert, im Zeitalter von Social Media, wo die User selbst bestimmen, worüber sie diskutieren wollen, und in dem man sich nicht mehr von irgendwelchen Aufpassern, seien sie menschlicher oder algorithmischer Natur, vorschreiben lassen will, was ein relevantes Thema ist und was nicht.
Er hat bis heute nicht geantwortet.
Das wundert mich aber nicht, denn aus seiner Warte gesehen hat er ja recht: Durch die totale Demokratisierung der Kritik ist kritische Reflektion über das Ergebnis dieser Demokratisierung unerwünscht. Es zählt nur noch Volkes Stimme, und die Mehrheit hat ja immer Recht! Da ist für elitäres Geschwafel kein Platz.
„Nutzwert, Nutzwert, Nutzwert“, pflegte mein alter Freund Fritz Bräuninger zu sagen, der frühere Chefredakteur der Geschäftswelt und einstiger WiWo-Mann. Da ging es um ähnliche tektonische Veränderungen im Wirtschaftsjournalismus, der in meinen Augen auch immer mehr verflacht zu einer Art Tippsammlung für Manager. „Nutsworth, nutsworth, nutsworth“, habe ich ihm deshalb entgegnet. Wobei „nuts“ in meiner Muttersprache ein verächtlicher Ausdruck für Wertloses ist, nach dem Motto: „Nuts to you!“ – du kannst mich mal…
Ich finde, dass Selbstreflektion eine große Errungenschaften der Aufklärung ist, und Selbstbezug eine einzigartige menschliche Fähigkeit. Aber dafür ist offenbar immer weniger Platz in unserer durchdigitalisierten Welt.
Schade, denn gerade das Internet und der Social Web müssen unbedingt für den kritischen Diskurs frei sein. Ja, auch für die Restaurantkritik, die aber auch von einer gewissen Sachkunde geprägt sein muss, wenn sie wirklich relevant sein will. Dazu gehört auch die kritische Diskussion über die Kritik selbst – aber für die ist offenbar ja kein Platz mehr, jedenfalls nicht auf TripAdvisor. Durch die Reduktion auf die Frage „hat’s geschmeckt oder nicht?“ fehlt ihr eine wichtige geistige Dimension. Übrig bleibt irgendwann nur noch gastrische Entleerung und Erleichterung.
Künftigen Generationen von Gastrokritikern kann man unter diesen Umständen nur raten: Baut Euch lieber mit dem Geld ein Einfamilienhäuschen!
Besuchen Sie auch meinen Meta-Blog auf czyslansky.net, schauen Sie sich meine Videos auf YouTube an oder diskutieren Sie mit mir auf Facebook.