Das Zwischenjahr – die Zeit nach Weihnachten bis Dreikönig – ist fast unerträglich langweilig. Wenn man, wie ich, zu alt ist, um bis Mitternacht aufzubleiben um zuzuschauen, wie die Menschheit das Geld verballert, das dringend nötig wäre, um den Hunger in der Welt zu stillen oder wenigstens ein paar Flüchtlingen einen Platz in der Herberge zu bezahlen, dem bleibt eigentlich nur – das Internet!
So sitzt man vor dem Bildschirm, hat eigentlich nichts dringendes dort zu suchen – und findet viele Dinge, die er entweder vergessen hat, oder auf die er nie von alleine gekommen wäre. Man klickt sich durch von Link zu Link, schmunzelt oder zieht die Stirn in Falten, je nachdem, wohin die digitalen Götter die Schritte lenken. „Browsen“, hieß das in den Frühtagen, weshalb das Softwareprogramm, das wir alle täglich verwenden, „Browser“ heißt. „To browse“ bedeutet im Englischen „blättern“ oder „durchsuchen“. Da wir Native Speakers aber für fast jedes Wort in unserer so wortreichen Sprache mindestens eine, meist aber mehrere Alternativen besitzen, hätte der „Browser“ auch genauso gut ganz anders heißen können.
Zu den Synonymen für „to browse“ zählen zum Beispiel „to scan“, „to hunt“ oder „to rummage“, wie in „to rummage around in a suitcase“, also einen prallvollen Koffer zu durchwühlen. Aber „scanner“ und „hunter“ sind bereits anderweitig belegt, und wer will schon einen „Rummager“ verwenden. Klingt irgendwie nach „rumackern“.
Dabei hätte es ein viel schöneres Wortgebilde geben können, eines, das die geradezu philosophische Dimension des Browsens, also der Suche nach Erkenntnis, beschrieben hätte. Ich meine das wunderbare Wort „serendipity“.
Der deutsche Begriff „Serendipitätsprinzip“, bezeichnet laut Wikipedia eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Angeblich war es der britische Autor Horace Walpole, der vierte Earl von Orford (1717-1797), der den Begriff „serendipity“ zum ersten Mal verwendet hat, und zwar in einem Brief an seinen in Florenz lebenden Freund Horace Mann. Er bezog sich dabei auf das persische Märchen von den „Drei Prinzen von Serendip“, in dem es um den Prozess der Apokatastasis „(„Wiederherstellung“ oder „Neuordnung“ in der materiellen und in der immateriellen Welt geht.
Eines Tages verließen die drei Prinzen von Serendip ihren Vater den König um nach Ruhm und Schätzen zu suchen um ihren Vater zu ehren und seine Gunst zu gewinnen. Sie reisten nicht als Prinzen und so erlitten sie viele Härten und menschliches Leiden auf ihrem Weg. aber sie erlebten auch sehr unerwartet viel Gutes in den seltsamsten Situationen, Plätzen und Menschen. Dieses Finden von unerwarteten, aber wertvollen Erlebnissen, beschreibt das Wort Serendipität.
In der Informationsverarbeitung, das habe ich auf dem Weg zu dieser Erkenntnis gelernt, spielt der Serendipitätseffekt eine wichtige Rolle, etwa bei der Rückgewinnung von Informationen, die verloren gegangen oder verschüttet worden sind. Man kann ihn sogar als Formell beschreiben, nämlich
Wobei S (Serendipität) eine Funktion aus der Anzahl der brauichbaren Dokumente b(s), also dem Suchargument, und b (die Anzahl der für das Suchargument nicht relevanten Dokumente) ist. Mit der Erfindung von Hypertext wurde der Serendipitätseffekt sozusagen zum Grundprinzip des World Wide Web erhoben.
Mir scheint, dass diese wunderbare Eigenschaft des Internet heute bedroht ist. Immer häufiger gehen wir mit Hilfe von „Apps“ online – kleine Softwarebausteine, die in der Regel nur für eine einzige Aufgabe geschaffen worden sind, nämlich uns so schnell wie möglich zu einem gewünschten Ergebnis zu führen. Damit geht aber der eigentliche Zauber des Internets, oder jedenfalls des Webs, nach und nach verloren: Das geruhsame Schlendern entlang der verschlungenen Hypertextpfade, wo der Weg das Ziel ist und das Unerwartete die Belohnung.
Wenn ich mir im neuen Jahr etwas wünschen darf, dann die Zeit – und die Gelassenheit – viel häufiger solche Web-Wanderungen zu machen und mich so in diesen zeitlosen Zustand der Serendipität zu versetzen. Und wie schön wäre es, wenn wir den schnöden Browser in Zukunft unseren ganz persönlichen „Seredipiter“ nennen würden.