Ich habe in den letzten Tagen die Geschichte schon so oft erzählen müssen, dass ich sie jetzt aufschreiben sollte. Denn ich muss mich an dieser Stelle – in aller Bescheidenheit – endlich mal als den eigentlichen Erfinder von Twitter outen. Das heißt, nicht von Twitter, wohl aber des „Tweets“, jener angeblich neuen Ausdrucksform, die in ihrer Verkürzung einen ganz eigenen poetischen Charme und für viele Millionen Menschen offenbar unwiderstehlichen Charme versprüht. Ja, ich war derjenige, der diese schnell aus der Hüfte geschossene Art der Kurzkommunikation mittels eines eigentlich dafür nicht vorgesehenen Mediums. Nur dass meine Erfindung nie zu einer solchen Beliebtheit gelangte, sondern sozusagen in der Familie blieb. Und das kam so:
1984 hatte ich mein Redaktionsbüro noch in Fellbach, einem verschlafenen Vorort der etwas weniger verschlafenen Großstadt Stuttgart. Dort arbeitete im Büro der Österreichwerbung eine gewisse junge Dame mit langen roten Haaren, die für die Journalistenbetreuung zuständig war. Und mit der Zeit gewöhnte ich mich so sehr daran, dass in mir der Wunsch entstand, doch bitteschön den Rest meines Lebens so betreut zu werden. Ich machte ihr also einen Heiratsantrag, sie nahm an, wir verlebten wunderbar verliebte Wochen und Monate, bis es endlich so weit war.
Im Büro meiner Angebeteten stand damals ein Telexgerät, ein unförmiges Gerät in der Größe eines kleinen Kühlschranks, das wie ein brütendes Monster in der Ecke hockte, nur um sporadisch zu klappernder Geschäftigkeit zu erwachen, wenn wieder mal eine Nachricht aus der Hauptstelle in Wien oder von sonstwoher herein kam. Dieses Gerät hatte die Kennung „721432 oefws d“ die man wählen musste, um eine Verbindung herzustellen. Zufällig traf es sich, dass auch ich kurz zuvor eine solche Maschine gekauft hatte, weil ich die Geschäftsstelle der so genannten „MSX Arbeitsgemeinschaft Deutschland“ übernommen hatte, ein Herstellerzusammenschluss der Spielcomputerbauer, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls hatte mein Gerät die Kennung „7254738 msx d“, und sie stand direkt neben meinem Schreibtisch, was sehr störte, wenn man gerade telefonierte und es kam ein Telex herein, aber ich konnte mir damals nur ein sehr kleines Büro leisten, also lebte ich damit.
Wie das nun mal so bei Jungverliebten ist, haben sich meine Angebetete und ich tagsüber öfter mal angerufen, um uns zu verabreden, irgendetwas Erlebtes zu berichten oder auch nur, um uns gegenseitig süße Nichtigkeiten ins Ohr zu flüstern. Aber da wir beide ziemlich viel zu tun hatten, war die Leitung auch mal besetzt. Aber in diesem Lebensabschnitt spürt man bekanntlich ein stetes Drängen nach Nähe und Austausch mit dem geliebten Gegenüber, und so passierte es eines Tages, dass mein Telex ansprang und irgend jemand begann, auf der anderen Seite langsam und zögernd eine Nachricht einzutippen. Sonst kamen die Texte ja wie aus dem Maschinengewehr geschossen, denn das Gerät besaß einen Lochstreifenleser, und für gewöhnlich speicherte man seine Mitteilung auf diesem Medium und ließ sie später durch rattern, um teure Verbindungszeit zu sparen. Hier war aber offenbar ein Mensch am Werk, der zu mir wollte. Ich riss das Blatt heraus und las: „Telefonierst aber lang! Was ist nun mit Abendessen beim Italiener? Bussi!“ I
ch schaute auf den Absender: 721432 oefws d. Und wusste: Das war die junge Dame mit den roten Haaren. Ich setzte mich also gleich hin und tippte eine mehr oder weniger passende Antwort ein. Am Abend beim Italiener haben wir herzlich gelacht darüber, wie wir ein hochprofessionelles Kommunikationssystem, sozusagen die damalige Krone der technischen Schöpfung, zu etwas so Profanem missbraucht hatten wie eine klandistine Verabredung.
In den Wochen, die folgten, war die Telefonleitung immer wieder mal besetzt, und wir bedienten uns deshalb immer häufiger des Telexes, um zu kommunizieren. Das meiste davon war herrlicher Unsinn. Sachen wie „du bist eine quasselstrippe“ oder „du lugenbeutel wolltest doch schon längst zu Hause sein“ oder auch nur „ich liebe dich (arz)“. Das Telex kannte leider damals keinen Ausrufezeichen, also behalf man sich eben, so wie man heute kleine Smilies in seine Mails einfließen lässt…
Wir hielten uns per Telex auf dem Laufenden, etwa als ich tippte „unterhalte mich gerade mit hartmut [mein leider viel zu früh verstorbener Freund Hartmut Dirks aus Emden – „ostfriesische Stadt mit zwei Buchstaben“] er laesst gruessen. ohne nen korn sei ein bier ja so trocken.“ Oder wir teilten unsere Entdeckungen miteinander, etwa „weisst du eigentlich, dass es in heidelberg eine plunschlistrasse gibt?“. Es entspannten sich auch herrlich surreale Dialoge wie dieser:
721432 oefws d: bist du am platze?
7254738 msx d: wie bitte?
721432 oefws d: warum?
7254738 msx d: stelle bitte praezise fragen
7254738 msx d: kann ich nicht
7254738 msx d: dann stelle eben oesterreichische fragen
Aber irgendwann musste ja der Enrst des Lebens weitergehen, und ich verabschiedete mich mit einem flotten „also lieber schatz, genug des witzes. i.l.d.“ Und damit war eigentlich alles gesagt.
Da ging eine Weile so, bis schließlich im Oktober 1985 der große Tag kam und wir miteinander vor den Standesbeamten traten. Und als wir herauskamen, hatten unsere Freunde den Brunnenplatz vor dem Standesamt in Stuttgart-Wangen in ein Freiluft-Buffet verwandelt mit Champagnerkellnern und einem großen Gabentisch, auf sich die Hochzeitsgeschenke türmten. Eines davon war so groß wie ein Plakat, und als ich das Papier wegriss, kam ein Bilderrahmen zum Vorschein, in dem eine Kollage aus Telexnachrichten steckte. Meine Sekretärin hatte unbemerkt dir Durchschläge unserer heimlichen Korrespondenz gesammelt und zusammen mit unserem Grafiker ein Kunstwerk geschaffen, das eigentlich ein Denkmal der menschlichen Fähigkeit darstellt, unter allen Umständen und mit jeden zur Verfügung stehenden Werkzeug zu kommunizieren. Es hängt noch heute bei uns an der Wand, und auch wenn die roten Haare blasser geworden sind (und bei mir inzwischen weitgehend verloren gegangen sind), so stehen wir immer noch ab und zu zusammen vor dem Bil
d und lachen über die jungen Kindsköpfe von damals und ihre völlig durchgeknallte Art, sich zu unterhalten.
Ich habe meine Frau noch nicht zum Twittern überreden können. Sie scheut sich, diese zutiefst intime Form der Kommunikation über ein Netzwerk zu betreiben, dem sie im Grunde immer noch ein wenig misstraut. „Was ist, wenn das plötzlich öffentlich sichtbar wird“, fragt sie mich. Ich versuche sie zu beruhigen, das System sei doch sicher, und dann fragt sie mich, wie sicher E-Mail sei, und ich muss an den alten Spruch denken: „schreibe niemals etwas in eine Mail, die du nicht auch auf eine Postkarte schreiben würdest.“ Vielleicht hat sie ja recht. Im Grunde habe ich keine Ahnung, wie sicher Twitter ist. Ich nehme an, Sie auch nicht, geneigter Leser, aber das stört uns ja nicht, weil wir nur fröhlich drauflos twittern wollen und uns einen Teufel drum scheren, was damit passiert. Aber das ist nicht jedem gegeben, leider.
Noch wehmütiger wurde mir übrigens als ich las, der Telexdienst in Deutschland werde zum 31. Dezember 2007 eingestellt. Österreich hatte schon ein Jahr früher die Leitung gekappt. Auch wenn ich seit 20 Jahren nicht mehr davor gesessen bin, finde ich die Vorstellung traurig, dass es die alten Klapperkisten nicht mehr gibt. Was bleibt, ist die Erinnerung – und Twitter.