Wie viele Tausend andere war meine erste Reaktion auf die Nachrichten vom Anschlag auf die Redaktionsräume von Charlie Hebdo und den Mord an, unter anderen, Journalistenkollegen wie Stephane Charbonnier („Charb“), Jean Cabut („Cavu“) und George Wolinski (Wolin“), auf Facebook zu gehen und mein Foto mit dem schwarzen Plakat „Je suis Charlie“ zu ersetzen. Alle, die das gemacht haben, und die Tausende, die ihr „Like“ darunter setzten, wollten das Gleiche: Sich mit denen solidarisieren, die für das Recht auf Ausdrucksfreiheit gestorben waren.
Ich hatte vorher noch nie etwas von Charlie Hebdo gehört. Mein Französisch reicht auch nicht aus, um die Texte zu lesen, die dort abgedruckt werden. Und als ich die Cartoons sah, auf denen gegen religiöse Engstirnigkeit protestiert werden sollte, war meine erste Reaktion: „Mein Gott, das hätte ein Sechstklässler zeichnen können.“
Über Geschmack lässt sich bekanntlich prima streiten, fast so gut wie über Religion. Als bekennender Atheist ist mein Verhältnis zu Menschen, die unter Ausschaltung des Verstands an übernatürliche Kräfte oder Wesen glauben, ein eher mitleidiges. Aber ich bekomme immer noch eine leichte Gänsehaut, wenn ich den Voltaire zugeschriebenen Satz höre oder lese: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“
Dumm ist nur, dass Voltaire das gar nicht gesagt hat. Das Zitat stammt höchstwahrscheinlich aus dem 1906 veröffentlichten Roman The Friends of Voltaire der Engländerin Evelyn Beatrice Hall, die (auf English!) schrieb: „I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it.“
In einer lesenswerten Forumsdiskussion des Kölner Express zum Thema “Voltaire auf Deutsch” wird das Zitat bis zu seiner vermutlichen Quelle in Voltaires 1765 geschriebenen Werk „Questions sur les miracles“ zurückverfolgt, wo es heißt:
„Le droit de dire et d’imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse. Ce privilège nous est … essentiel … ; et il serait déplaisant que ceux en qui réside la souveraineté ne pussent pas dire leur avis par écrit“
(„Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“)
Ist natürlich nicht so griffig, und so hat sich eben das erfundene Zitat weltweit durchgesetzt. Und ob es von Voltaire ist oder nicht ist eigentlich auch egal: Was wir sagen (oder hören) wollen ist eben, dass es schlimmstenfalls nötig ist, für das Recht auf Ausdrucks- und Meinungsfreiheit zu sterben. Wobei es natürlich praktisch ist, wenn es andere für uns tun, so wie Charb, Cavu und Wolin.
Es dauerte aber natürlich nur ein paar Stunden, bis die unvermeidliche journalistische Gegenreaktion einsetzte und die Leitartikler und Kolumnisten anfingen zu versuchen, die Seifenblase allgemeiner Bestürzung und Entrüstung zum Platzen zu bringen, indem sie hinterfragten, ob die Cartoonisten nicht selber schuld waren, weil die Cartoons vielleicht a) geschmacklos oder b) respektlos gewesen seien. In beiden Fällen, so die kopfgesteuert süffisante Logik dieser Vor-Denker, müsse man ein gewissen Maß an Verständnis aufbringen, wenn nicht für die Täter selbst, dann doch für die Muslime aus aller Welt, die sich darüber empörten.
Auch hier gab es wieder die schon fast einstudierten Proteststimmen, für die ein Angriff auf die Ausdrucksfreiheit gleichbedeutend ist wie ein Angriff auf die Menschenwürde, also auf fundamentale Grundrechte der europäischen Aufklärung. Sie sind für die Anhänger des Kategorischen Imperativs ebenso in Stein gemeißelt wie für einen Christen die 10 Gebote oder für einen Muslim das „unerschaffene Wort Gottes“, das dem Propheten Mohamed angeblich vom Erzengel Gabriel diktiert worden ist. Dieses Pingpongspiel zwischen Religion und Rationalismus ist so vorhersagbar wie das Amen in der Kirche, führt uns aber nicht weiter.
Es gibt in der amerikanischen Philosophiegeschichte eine Schule, die im späten 19ten Jahrhundert entstand und die sich „Pragmatismus“ nennt. Sie geht vor allem auf William James zurück, dem Bruder des Schriftstellers Henry James. „Truth is what works“, schrieb James – wahr ist das, was uns im Leben weiterhilft.
Das ist eine hohe Messlatte. Und wenden wir sie an, um die Mohamed-Cartoons von Charlie Hebdo, aber auch von Jyllands-Posten zu beurteilen, dann fallen sie wohl eher durch. Hilft es uns wirklich weiter, Symbole zu verhöhnen, die anderen heilig sind? Oder ist ein solches Verhalten nicht vergleichbar mit pubertären Kritzeleien an Toilettenwänden: nur dazu geschaffen, andere zu ärgern, um sich wiederum an dem Ärger zu ergötzen?
Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, ob etwas „heilig“ ist im Sinne übersinnlicher Wahrnehmung. Etwas kann uns auch in ganz profanem Sinn heilig sein, weil wir daran emotionale Verbindungen knüpfen. Sie zu verletzen trifft uns in unserem tiefsten Wesen, also in unserer Menschlichkeit, unserer Menschenwürde.
Wir haben es also mit einer dieser typischen kniffeligen Abwägesituationen zu tun zwischen zwei an sich gleichrangigen Grundrechten: Dem einen sein Ausdrucksfreiheit verletzt dem anderen seine Menschenwürde. Welches Recht wiegt höher? Der alte Salomon hat in einer ähnlichen Situation geraten, das Kind, um das sich zwei Möchtegern-Mütter stritten, zu zweiteilen. Was hätte er in diesem Fall geraten?
In der Wochenendausgabe der New York Times schreibt der amerikanische Philosophieprofessor Jason Stanley unter der Überschrift „Postkarte aus Paris“, folgenden Text: „Die hochverehrten Cartoonisten von Charlie Hebdo haben nicht nur die wichtigste religiöse Figur des islamischen Glaubens verhöhnt; sie haben Papst Franziskus ähnlichem Spott unterzogen. Keine Autoritätsfigur war vor ihnen sicher. Zu behaupten, Charlie Hebdo habe den Islam zum Ziel seiner Schmähungen gemacht, ist ein Missverständnis, könnte man meinen. Ihr Ziel war Autorität, egal welche Quelle sie hat.“
Und doch gibt es einen wichtigen Unterschied, schreibt Stanley. Der Papst repräsentiert die vorherrschende religiöse Tradition in Frankreich, den Katholizismus – die Religion der Mehrheit der Franzosen, also. Der Islam repräsentiert eine kleine Minderheit, und dazu noch eine, die wirtschaftlich und politisch seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten von eben dieser Mehrheit zuerst kolonialisiert. dann ausgebeutet und zuletzt marginalisiert worden sind. Und Stenley gipfelt in dem Satz: „To mock the prophet is to add insult to injury.“
Diese Phrase lässt sich nur unvollkommen ins Deutsche übersetzen, etwa als „wie zum Hohn“ oder „etwas die Krone aufsetzen“. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, jemanden, der schon verletzt am Boden liegt, auch noch auszulachen und zu beschämen.
Ich denke, selbst ein säkularer, aufgeklärter Moslem ist zusammengezuckt angesichts eines Cartoons, das einen bärtigen Mann mit einer Bombe und brennendem Zündschnur im Turban zeigt – erst recht, wenn er ein junger Arbeitsloser ist und in einem Banlieu lebt.
Die Frage ist also nicht, durften die Zeichner das, sondern: hätten sie das sollen? Ist das Wahrheit, die uns weiterbringt, oder kitzelt sie nur den Lachnerv der Mehrheit auf Kosten der von ihr unterdrückten Minderheit?
Ich weiß, ich weiß: Satire ist Teil der französischen Politiktradition, sie war und ist ein wichtiges Kampfmittel gegen Obrigkeit und Unterdrückung. Aber was, wenn sie sich gegen die Unterdrückten richtet? Ist sie dann noch legitim?
Und selbst wenn nicht: Der Leitartikler in der aktuellen Ausgabe des Economist hat Recht. „Nichts, was man mit Zeichenstift oder Tastatur machen kann, rechtfertigt eine Erwiderung mit einer Kalaschnikow.“ Aber man kann auch mit Stift und Keyboard eine Menge Schaden anrichten.
Freiheit – auch Freiheit des Ausdrucks – gibt es nicht umsonst. Sie ist mit gewissen Pflichten verbunden, auch für Journalisten. Vielleicht auch diese: Benütze deinen Hausverstand, bevor du zeichnest oder schreibst!