Das Rechtsprinzip der Waffengleichheit ist eine große zivilisatorische Errungenschaft, die wir wie so vieles (vielleicht von der Küchenkunst abgesehen) den Engländern verdanken, wo sie im Mittelalter Einzug fand in das „Common Law“. Sie findet sich heute wieder in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wo sie den Schutz des einfachen Bürgers vor dem mächtigen Hohheitsapparat garantiert und ihm damit die Möglichkeit gibt, erfolgreich gegen staatlich Übergriffe zu klagen.
Waffengleichheit bedeutet aber natürlich auch, dass die Gegenseite zurückschlagen kann, mit den gleichen Waffen, eben. Und das kann ganz schön weh tun, wie jeder weiß, der je einem Händler bei eBay eine schlechte Note verpasst hat. Egal, ob gerechtfertigt oder nicht (und bei den eBay-Händler gibt es jede Menge Gauner, Betrüger und Deppen, glauben Sie mir!): Der Angepinkelte konnte zurückpinkeln, ob zu recht oder nicht.
Ist ja auch klar: Wenn eine Seite bei einer Transaktion unzufrieden ist, ist es die andere wahrscheinlich auch. Um zu beweisen, wer von beiden recht hat, wäre aber eine aufwändiges Schiedsverfahren nötig. Und den Schuh zieht sich eBay verständlicherweise nicht an. Wieso auch – Pandora ließe grüßen! Sollen die Streithähne die Sache unter sich ausmachen.
Nun ist das Bewertungssystem von eBay eine feine Sache, denn sie gibt anderen potenziellen Kunden die Gelegenheit, etwas über den Ruf des Händlers zu erfahren. Wenn einer reihenweise rote Punkte hat, dann lässt man lieber die Finger weg. Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, ordentliches Geschäftsgebaren und zügige Abwicklung hingegen belohnen die meisten Kunden durch gute Noten, und die sind am Ende bares Geld wert. Ich jedenfalls bin ziemlich stolz darauf, dass alle 84 Käufer, die bei mir im Laufe der letzten Jahre irgendwas ersteigert haben, mich positiv bewertet haben. Das ist sozusagen ein digitaler Leumund, der jedem, der vorbeikommt sagt: „Cole ist ein ordentlicher Mensch, mit dem kannst du Geschäfte machen.“
Wo genau die Grenze zwischen ordentlicher Mensch und Stinkstiefel verläuft, ist Ermessenssache. Ich habe mich mal furchtbar über einen echten Stinkstiefel aus Österreich geärgert, der mich monatelang hinhielt und mit überhöhten Portogebühren auch noch übers Ohr haute. Er hatte eine Durchschnittsbewertung von 94 Prozent Positiv. Nicht schlecht, dachte ich, bis ich mich auf dem Käuferforum von eBay erkundigte und von einem alten eBay-Hasen die lapidare Antwort erhielt: „Wenn du bei einem, der nur 94 Prozent hast, etwas kaufst, bist du ein Trottel.“
Andererseits hat in der Vergangenheit oft schon die Drohung mit einer schlechten Note genügt, um Streitereien mit einem Verkäufer wie von Zauberhand hinweg zu wischen. Klar: Wenn das mit den 94 Prozent stimmt, dann ist schon eine einzige Niete genug, um den guten Ruf zu ruinieren, und deshalb fürchten die meisten Händler die Negativnote wie der Teufel das Weihwasser.
Was uns aber wieder zum Prinzip der Waffengleichheit zurückführt, denn was ich kann, kann der andere ja auch: Gebe ich einem Verkäufer eine schlechte Note, kann er sich umgehend revanchieren und mir auch eine reinwürgen. Es gibt zwar ein – wie gesagt, sehr aufwändiges – Verfahren bei eBay, um solche oft im Effekt ausgetauschten Minuspunkte wieder zu entschärfen. Nur: Ganz zurücknehmen konnte man sie nicht. Sie zählten zwar nicht mit bei der Durchschnittsnote, aber wer sich die Mühe machte, das Bewertungskonto eines Händlers oder Käufers durchzunudeln, der fand sie dort, mit einem lapidaren Kommentar versehen, die Gegenseiten hätten vereinbart, die Bewertungen wieder zurückzunehmen. Das schwarze Auge blieb aber sichtbar.
Doch das soll jetzt nun vorbei sein. Ebay hat etwas getan, was an sich sehr gefährlich ist: Sie hat Änderungen an einem an sich recht erfolgreichen Modell vorgenommen. „Never change a running system“, sagen die IT-Profis aus leidvoller Erfahrung, denn meistens funktioniert es nicht mehr so wie vorher.
Jedenfalls soll es künftig Verkäufern nicht mehr möglich sein, ihre Kunden schlecht zu bewerten. Das ist ungefähr so wie mit den Arbeitszeugnissen, in die der Arbeitsgeber auch nicht mehr reinschreiben darf, dass Müller-Schulz jeden Morgen besoffen in die Firma kam oder Fräulein Krause mehr Zeit in der Kantine als am Schreibtisch verbracht hat.
Laut eBay besteht die Gefahr, dass es zu ungerechtfertigten schlechten Bewertungen seitens der Verkäufer komme, wenn diese zuvor von ihren Produkt-Abnehmern negativ kommentiert wurden. Um derlei „Racheakten“ vorzubeugen, sollen jene, die Artikel anbieten, künftig keine unvorteilhaften oder neutralen Bewertungen über die Käufer mehr abgeben dürfen. „Bewertungen sollen vor allem Käufern ein objektives Bild über die Seriosität und die Qualitätsstandards eines Händlers geben. Aus diesem Grund haben wir in der Vergangenheit bereits einige Änderungen am Bewertungssystem vorgenommen und zum Beispiel die detaillierte Verkäufer-Bewertung eingeführt“, zitiert der Nachrichtendienst „Pressetext“ Jörg Bartussek, den Sicherheitsverantwortlichen bei eBay. Man fürchte, dass viele Käufer sich nicht trauen würden, negative Kommentare abzugeben, weil sie Angst vor der Retourkutsche der Verkäufer hätten. Infolge entstehe auch kein wahrheitsgetreues Bild über die tatsächlichen Abläufe zwischen den beiden Parteien.
Ist ja alles wahr und richtig, aber andererseits auch nicht. Gerade ich habe großen Respekt vor der neuen Macht des Kunden (ich habe schließlich ein ganzes Buch, „Das Kunden-Kartell“, darüber geschrieben). Aber das geht mir dann doch ein Schritt zu weit.
Wie gesagt: Das Prinzip der Waffengleichheit ist ein hohes, hart umstrittenes Rechtsgut. Es ohne Not aufzugeben will wohl überlegt sein.
Mir scheint aber, dass man bei eBay wieder mal (siehe der voreilige Kauf von Skype) eine wichtige Entscheidung mit einer allzu heißen Nadel gestrickt hat. Klar, der neue CEO John Donahoe muss zeigen, dass er es anders, vor allem aber besser kann als seine glücklose Vorgängerin Meg Whitman. Aber da gibt es für ihn andere Baustellen, die wichtiger wären. Zum Beispiel das immer noch ausufernde Angebot an Festpreis-Produkten auf einer Plattform, die ihre Daseinsberechtigung – und ihren Charme – immer aus der Spannung gezogen hat, die nur beim Steigern entsteht: Drei, zwei, eins – meins!