Ich muss mich bei meinen Landsleuten entschuldigen. Auf meiner Festplatte befindet sich ein halbfertiger Text, den ich geschrieben habe und in dem ich die tiefe Kluft zwischen Amerikanern und Europäern in Sachen staatlicher Beschnüffelung beklage. Europäer, so wollte ich argumentieren, halten Edward J. Snowdon, der den NSA-Skandal ins Rollen brachte, für einen Volkshelden, die Amerikaner halten ihn für einen Landesverräter. Und wenn man, wie ich, seine Informationen über die Reaktion in den USA auf PRISMgate weitgehend aus amerikanischen Tageszeitungsberichten bezieht, könnte man diesen Eindruck auch gewinnen. Sogar so ein Vorzeige-Liberaler wie Thomas Friedmann outete sich in einer Kolumne für die New York Times als Fan der NSA, weil er lieber seine Privatsphäre opfern als Opfer eines zweiten elften September werden wolle. Konservative Kommentatoren treibt der Gedanke an Staatsverrat dagegen regelrecht den Schaum an die Lippen. Der Politanalyst Ralph Peters forderte im stramm rechten Sender Fox News die Todesstrafe für Snowdon und für Bradly Manning, der hochgeheime Diplomatenpost an WikiLeaks verriet.
Man könnte sich also aus der Sicht eines aufgeklärten Europäers (zu denen ich mich hier ausnahmsweise dazu zählen möchte) den Kopf kratzen und zum Schluss kommen: „Die spinnen, die Amis“. Wenn nicht die Meinungsforscher von Quinnipiac in Connecticut gerade eine Studie herausgegeben hätten, die feststellt, dass 55 Prozent der Amerikaner Snowdon für einen Helden halten. Konkret wurde gefragt, ob er ein Landesverräter oder ein „Whistle-blower“ sei.
Der Begriff des Trillerpfeifenbläsers ist im Englischen allerdings ein zwiespältiger, denn er bedeutet im positiven Sinn „Informant“, im negativen aber auch „Nestbeschmutzer“. Im Falle der neuen Studie war aber die postive Bedeutung gemeint, also einer, der geheime Machenschaften aufdeckt und damit die Öffentlichkeit auf verborgene Missstände aufmerksam macht. Bravo, Landsleute! Zeigt es denen da oben – Schnüffler an den Pranger!
Aber halt: So einfach ist die Sache auch wieder nicht. Im Gegenteil: Die Antworten der Amerikaner offenbaren einmal mehr den schmerzhaften Spagat zwischen dem Wunsch nach Privatheit und dem genauen Gegenteil, nämlich Sicherheitsbedürfnis. So waren 54 Prozent der Befragten durchaus der Meinung, dass der große Lauschangriff nötig sei, um „Amerika sicher zu machen“. Andererseits behaupten 53 Prozent, dass die bekanntgewordenen Abhörprogramme zu weit gehen und einen „Eingriff in die Privatsphäre der Amerikaner“ bedeuten.
Interessant ist, dass sich die Reaktionen nicht entlang der zu erwartenden politischen Grenzlinien abspielen, also rechtskonservative Republikaner gegen bürgerrechtsbewußte Demokraten und Libertinäre. Die Angst vor amoklaufende „Beschützer“ ist quer über das gesamte politische Spektrum ausgeprägt und offenbart ein chronisches Misstrauen der Bürger vor ihrem eigenen Staat. Und das ist gut so, denn es ist die vornehmste Aufgabe eines erwachsenen Staatsbürgers, stets wachsam zu sein gegenüber jenen, an die wir als Volk unsere Machtbefugnisse stellvertretend abgegeben haben. Quis custodes ipsos custiodiet, wie der alte Seneca schon sagte: Wer beschützt uns vor unseren Beschützern?
Ich finde es jedenfalls beruhigend, das die Amerikaner das offenbar ganz genauso sehen.
Eine Antwort auf Die spinnen ja doch nicht, die Amis!