Das ist es, was wir im Bundestag brauchen: Erwachsenenwindeln!
Im amerikanischen Senat darf jeder Abgeordnete so lange reden, wie er will – und wie er kann. Das Thema bestimmt er selbst: Er steht einfach auf und redet los. Wenn er fertig ist, setzt er sich wieder hin. Strom Thurmond, ein stramm konservativer Republikaner aus South Carolina, hat den bis heute gültigen Rekord aufgestellt: Er blieb genau 24 Stunden und 18 Minuten vor dem Rednerpult stehen – die Regeln des Hohen Hauses verbieten, dass sich ein Redner daran klammert und sich damit Erleichterung verschafft. Auch andere Formen der menschlichen Erleichterung sind verboten, weshalb Thurmond während seiner Dauer-Ansprache eine Windel trug. Mit seinem verbalen Marathon wollte der knorrige Alte 1957 eine Abstimmung über die Bürgerrechtsgesetze verhindern, die er für verfassungswidrig hielt.
„Filibuster“ heißt diese Art des politischen Diskurses, und sie ist die wirksamste Waffe einer Minderheit, ihr unliebsame Gesetzgebungsverfahren, wenn nicht aufzuhalten, so doch wenigstens so lange in die Länge zu ziehen, bis die Mehrheit entweder einlenkt, oder bis drei Fünftel (also bei vollem Haus 60 der 100 Senatoren) dafür stimmen, ihm das Rederecht abzuschneiden.
Diese Form der taktischen Ermüdungsrederei ist nicht neu: Cato der Jüngere setzte sie erfolgreich gegen Caesar ein, um diesem im Jahre 60 vor Christus den Triumphzug zu verhageln: Als siegreicher Feldherr stand ihm diese zu, aber dazu hätte er bis zum angesetzten Tag vor den Toren Roms verharren müssen. Da der ehrgezige Julius aber vorhatte, für das freigewordene Amt des Consuls zu kandidieren, war er verpflichtet, sich umgehend nach Rom zu begeben. Da er nicht gleichzeitig an zwei Orten sein konnte, und Cato durch seine Langatmigkeit eine Abstimmung des Senats über eine Ausnahmereglung blockierte, blieb ihm am Ende nichts anderes übrig, als auf seinen Umzug zu verzichten.
In Deutschland wäre so was undenkbar. Und in Zukunft soll es sogar unmöglich werden.
Wenn CDU, SPD und FDP ihren Willen durchsetzen, sollen künftig die Fraktionsvorsitzenden der Parteien alleine entscheiden, wer worüber im Bundestag reden darf. Das neue Rederecht, gegen das sich nur Grüne und Linke ausgesprochen haben und das wohl deshalb auch ohne große Diskussion durchgewinkt werden, soll den Parlamentspräsidenten dazu verpflichten, das Wort nur noch an die von der Fraktion eingeteilten Redner zu erteilen. So ein Fall wie bei der Debatte um den Euro-Rettungsschirm, als Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch (CDU) gegen den Beschluss ihrer eigenen Parteien aussprachen, soll es so nicht mehr geben dürfen
Das ist ein handfester Skandal, und ein besonders krasses Beispiel für das kaputte Politikverständnis in Deutschland, das bekanntlich keine richtige Demokratie, sondern eine „Parteiendemokratie“ ist. Ja, der Begriff hat etwas von einem Oxymoron, denn Parteien sind von ihrem Wesen her zunächst einmal einzig und alleine den Interessen ihrer eigenen Wähler, im Zweifel also einer Minderheit des Volkes verpflichtet. In Wahrheit sind sie natürlich auf die Interessen einer Handvoll Männer und Frauen an der Parteispitze eingeschworen, für die Franktionszwang und Rederecht handfeste Machmittel zur Erhaltung des eigenen Status quo sind.
Ein Abgeordneter dagegen ist laut Artikel 38 des Grundgesetzes ein Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen. Dass die Gründungsväter der Republik den Parteien überhaupt eine Rolle im politischen Prozess zugedacht haben, ist historisch nachvollziehbar: Man hat ja so seine Erfahrungen gemacht in der Vergangenheit mit Weimarer Republik, Hitler und so. Das kommt davon, wenn man dem Volk allzuviel Mitbestimmung lässt, haben sie sich gedacht, also setzten sie im Artikel 21 vorsichtshalber eine Aufsichtsinstanz ein, nämlich die Parteien, die am Prozess politischen Willensbildung „mitzuwirken“ haben – mehr allerdings nicht.
Dass sich nun die Fraktionsvorsitzenden der großen Parteien selbst das Recht geben zu bestimmen, wer worüber im Parlament reden darf, ist nichts weniger als ein stiller Staatsstreich! Mit Demokratie hat es jedenfalls nichts mehr zu tun. Ein solcher Schritt erinnert fatal an das Gesetz zur „Gleichschaltung von Partei und Staat“, mit der die NSDAP sich am 1. August 1934 zur alleinigen Staatspartei erklärte und alle anderen auflösen ließ.
Wenn, wie die ARD berichtet, die Piratenpartei inzwischen mit elf Prozent in der Wählergunst vor dem sicheren Einzug in den Bundestag steht und damit das Parlament noch mehr zum Flickerlteppich widerstreitender und zunehmend einflussloser Einzelparteien verkommt, dann darf sich niemand wundern – am allerwenigsten die Fraktionsbosse von CDU, SPD und FDP. Sie haben mit ihrem selbstherrlichen Machtgehabe die politische Kultur in Deutschland endgültig vergiftet und damit der Demokratie in Deutschland einen Bärendienst erwiesen. Der Begriff „Politikverdrossenheit“, eine Maläse, an der inzwischen mindestens jeder Dritte in diesem Land leidet, wie die Wahlquoten beweisen, ist noch eine harmlose Verschönerung der wahren Situation: In Wirklichkeit kotzt das politische Gehabe in Berlin die meisten Menschen in diesem Land nur noch an.
Ich sag’s ja ungern, weil er ein widerlicher alter Rassist war, aber was wir in Deutschland brauchen, sind Leute wie Strom Thurmond – nämlich Abgeordnete, die sich das Mikrofon nur noch aus der klammen, toten Hand winden lassen. Gebt den Abgeordneten im Bundestag gefälligst eine Windel – oder lasst sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist!