Zu Anfang habe ich die Frage auf Quora für relativ bedeutungslos gehalten. Bis mir aufging, dass die Kirchen ihre ganze Legitimation von einem historischen Jesus beziehen, über dessen Jünger es eine apostolische Sukzession gibt. Ohne diese stünden die Kirchen ohne jede Legitimation da, deswegen wird soviel Wert darauf gelegt, dass alles so war, wie in den Evangelien beschrieben. Zumindest offiziell. Wenn man das öffentlich bestreitet, dann kann man sich leicht den Kirchenbann einhandeln, was für Priester ein Berufsverbot bedeutet.
Wir wissen von einigen Althistorikern, dass sie die Existenz von Jesus bestritten und sich Ärger eingehandelt haben. Noch schlimmer erging es aber den Theologen, die sich kritisch über die Existenz von Jesus geäußert haben.
Inoffiziell ist die Prozentzahl der evangelischen Priester, die nicht an die Auferstehung glauben, größer als die Zahl bei den Laien.
Althistoriker meiden dieses Thema, wenn es geht. Sie wiederholen nur, was allgemein gesagt wird: Man könne die Existenz von Jesus nicht bestreiten, auch wenn er keinen großen Eindruck auf seine Zeitgenossen gemacht habe.
Wenn man sich auf ein wissenschaftliches Gebiet einlesen will, dann orientiert man sich normalerweise an den peer reviewed Studien auf dem Gebiet. Das ist der Goldstandard der Wissenschaft. Aber das Desinteresse der Althistoriker, also der Experten, die über die Zeit und die Gegend forschen, ist auffällig: Es gibt nur eine einzigepeer reviewed Studie auf der ganzen Welt über die Frage nach dem historischen Jesus. Diese kommt zu einem negativen Ergebnis. Hier ist sie enthalten: Carrier, Richard. 2014. Hitler Homer Bible Christ: The Historical Papers of Richard Carrier 1995-2013. Richmond, Calif.: Philosophy Press.
Dr. Carrier gehört zu den ganz wenigen Althistorikern, der darüber geforscht hat. Es gibt zwei Bücher von ihm, die sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigen:
Carrier, Richard. 2012. Proving History : Bayes’s Theorem and the Quest for the Historical Jesus. Amherst, N.Y.: Prometheus Books.
Carrier, Richard. 2014. On the Historicity of Jesus: Why We Might Have Reason for Doubt.
Es gibt zwei Hauptargumente, die für den historischen Jesus angeführt werden:
- Die meisten Althistoriker bejahen die Existenz von Jesus. Das Argument ist schwach, weil sich kaum ein Althistoriker damit beschäftigt. Die meisten Theologen beschäftigen sich nicht damit, weil man sich dann Ärger mit den Kirchen einhandelt.
- Die außerchristlichen Zeugnisse für Jesus werden auch gerne angeführt, aber das Argument ist noch schwächer, denn alle gerne angeführten Textstellen stehen im Verdacht, spätere christliche Fälschungen zu sein. Siehe auch: Detering, Hermann. 2011. Falsche Zeugen: ausserchristliche Jesuszeugnisse auf dem Prüfstand. 1. Aufl. Aschaffenburg: Alibri.
Im Christentum wurde kräftig gefälscht, erleichtert dadurch, dass die Kirche lange Zeit so etwas wie ein Schriftmonopol besaß und die Bücher verwaltete. Das so viel gefälscht wurde, wird gerne bestritten — von genau den Theologen, die wissen, dass sechs von dreizehn Paulusbriefen im Namen des Paulus gefälscht wurden. Man bezeichnet es nur nicht als Fälschung, man nennt diese Briefe deutero- und triteropaulinisch. Das ist eine vornehme Umschreibung des Begriffs „Fälschung“.
Eine genauere Prüfung nach wissenschaftlichen Standards weckt starke Zweifel daran, vermutlich sind alle Paulusbriefe Fälschungen.
Wir haben also die Situation, dass wer sich wissenschaftlich mit der Zeit und dem Ort beschäftigt, eine kleine Minderheit unter den Althistorikern bildet, von denen die meisten nichts dazu sagen, und die, die es tun, Zweifel äußern. Man muss sagen: Die Mehrheit der Althistoriker, die keine Zweifel äußern, sind keine Experten auf dem Gebiet und zeigen sogar ein auffälliges Desinteresse. Andererseits haben wir die Theologen, die nicht nach wissenschaftlichen Standards forschen und dies bejahen müssen oder ihren Job verlieren, es sei denn, sie sind unabhängig von der Kirche.
Bei den kirchenunabhängigen Theologen wiederum finden wir viele, die eine Geschichtlichkeit Jesus bezweifeln oder sogar rundheraus bestreiten. Vor allem, nachdem Earl Doherty neuen Schwung in die Sache gebracht hat, mit Doherty, Earl. 2009. Jesus : Neither God nor Man : The Case for a Mythical Jesus. Ottawa: Age of Reason Publications. Das ist eine stark erweiterte Fassung des Buches, dass die Sache neu ins Rollen gebracht hat: Doherty, Earl. 1999. The Jesus Puzzle : Did Christianity Begin with a Mythical Christ? Ottawa: Canadian Humanist Publications.
Das letztere Buch gibt es sogar auf deutsch: Doherty, Earl. 2003. Das Jesus-Puzzle: basiert das Christentum auf einer Legende? Neustadt am Rübenberge: Lenz.
Die Theologen, überwiegend, haben sich mit den Thesen von Doherty nie beschäftigt und nie davon gehört. Seine Argumente wurden jedoch von den Radikalkritikern und den Jesusmystikern unter den Theologen aufgegriffen und werden dort diskutiert. Immerhin wird sich in den USA demnächst das Jesus-Seminar, ein Zusammenschluss liberaler Theologen, mit der Frage nach dem historischen Jesus neu befassen, es gibt zu viele offene Fragen, zu viele Argumente, die nicht bedacht wurden.
Dohertys Hauptargument ist ganz simpel dieses: Vor dem Jahr 150 wurde im Christentum die Frage nach einem historischen Jesus nicht gestellt — alle Dokumente aus der Zeit davor, mit Ausnahme der Evangelien, sprechen nicht von einem historischen, sondern einem mythischen Jesus. Die Evangelien jedoch waren vor dem Jahr 150 ebenso unbekannt wie die Paulusbriefe, vor 150 gibt es also keine Diskussion darüber. In den Paulusbriefen wiederum, wenn man mal ihre Echtheit annimmt, wird nicht über einen historischen, sondern einen mythischen Jesus gesprochen. Aber auch die als echt angenommen Paulusbriefe wurden heftig überarbeitet, die Stellen, die eher auf einen historischen Jesus hinzudeuten scheinen, sind wohl spätere Hinzufälschungen. Ob es einen historischen Paulus gegeben hat, ist ebenfalls sehr umstritten.
Es bleiben die vier Evangelien. Das sind die einzigen Quellen über einen historischen Jesus aus den ersten 150 Jahren des Christentums. Das als „mager“ zu bezeichnen, wäre noch übertrieben geprahlt. Denn das Matthäusevangelium ist ein Plagiat des Markusevangeliums, größtenteils wörtlich abgeschrieben — nur die vielen Fehler des Markus-Evangelisten, der über Ort und Zeit und jüdische Gebräuche wenig wusste, sind dort korrigiert worden. Das Lukasevangelium wurde von demselben Verfasser wie die Apostelgeschichte geschrieben, der wohl „wüstesten Märchengeschichte des Neuen Testaments“, wie es die ehemalige Professorin für katholische Theologie, Uta Rancke-Heinemann, beschrieb.
Auffällig ist, dass die Evangelien erst um 150 auftauchen, ab da explodiert das christliche Schrifttum mit Bezug auf die Evangelien geradezu. Man muss sich fragen: Wenn das Markusevangelium wirklich um 70 herum verfasst wurde, warum es 80 Jahre komplett ignoriert wurde, und dann plötzlich, aus dem Nichts kommend, zu einer Explosion an christlicher Literatur führt? Kronzeuge dafür ist Justin der Märtyrer, der in seiner Biographie, der sagt, dass er das Christentum aus „Philosophischen Gründen“ angenommen hat, und dass es damals nicht einmal Gerüchte über einen gestorbenen und auferstanden Jesus gegeben habe. Die Situation ändert sich schlagartig ab dem Jahr 150, als die ersten Fragmente der Evangelien auftauchen. Justin zitiert um 150 neun Stellen, die aus dem Markusevangelium stammen könnten, leider ohne Quellenangabe. Markion besitzt um diese Zeit wohl eine Kurzfassung des Lukasevangeliums. Um 180 sind die vier Evangelien in der gesamten Christenheit bekannt, und Irenäus schlägt vor, genau diese vier Evangelien zu kanonisieren, ein Prozess, der erst 200 Jahre später abgeschlossen wurde.
Markion zieht ebenfalls um 150 herum plötzlich die Paulusbriefe aus dem Ärmel, die von einem dreizehnten Apostel stammen — von dem nie zuvor jemand etwas gehört hat. „Rein zufällig“, im Streit mit der entstehenden katholischen Kirche, bestätigt Paulus die markionitische Theologie. Kurze Zeit später beklagt sich Markion darüber, dass von seinen katholischen Widersachern gefälschte und stark veränderte Paulusbriefe in Umlauf gebracht worden sind.
Genaue Analysen der Paulusbriefe deuten darauf hin, dass die ursprünglichen Paulusbriefe von Markion oder einem seiner Schüler gefälscht worden sind. Später wurden diese dann heftig überarbeitet von einem katholischen Autor, der in Zusätzen den ursprünglichen gnostischen Inhalt der Urbriefe quasi „katholisiert“.
Siehe auch: Detering, Hermann. 1995. Der gefälschte Paulus: das Urchristentum im Zwielicht. 1. Aufl. Düsseldorf: Patmos.
Und vor allem das hier: Price, Robert M. 2012. The amazing colossal apostle: the search for the historical Paul. Salt Lake City: Signature Books.
Die Paulusbriefe jedoch, selbst wenn man sie akzeptiert, sprechen von keinem historischen Jesus. Das tun die erst um 150 aufgetauchten Evangelien, Schriften, die zuvor völlig unbekannt waren. Zahlreiche Anachronismen in den Paulsubriefen und den Evangelien deuten ohnehin auf das 2. Jahrhundert als Entstehungsdatum.
Die Argumente zusammengefasst finden wir hier: Price, Robert M. 2011. The Christ-myth theory and its problems. Cranford, N.J: American Atheist Press.
Die Frage nach dem historischen Jesus ist ungeheuer kompliziert und nicht so einfach abzutun wie es einige Theologen tun, die erkennbar den heutigen Stand der Diskussion nicht einmal annähernd kennen. Das kann man daran erkennen, dass sie Argumente aus dem 19. Jahrhundert wiederholen und auf die wirklichen Gründe für den Zweifel nicht eingehen. Nur hinter vorgehaltener Hand geben sie zu, dass die Probleme nicht alle gelöst wurden, die man schon vor über einem Jahrhundert aufgeworfen hat — von den neuen Argumenten ganz zu schweigen.
Abweichungen von der „politischen Linie“ der Kirchen wurden ganz schnell wieder vergessen und ignoriert, etwa die Leben-Jesu-Forschung von Albert Schweitzer und seinen Kollegen.
In einem einzelnen Posting kann ich kaum alle Argumente nennen, die gegen einen historischen Jesus sprechen. Die schwachen Argumente, die dafür sprechen, habe ich vollständig erwähnt. Man wird sich selbst ein Urteil bilden müssen, nur, weder dieses Posting noch das der anderen Autoren reicht dazu auch nur annähernd aus.
Was auf jeden Fall deutlich ist: Der Jesus der Evangelien ist eine reine Erfindung. Wenn es ein historisches Vorbild gegeben haben sollte, dürfte sich der historische Jesus in den Evangelien nicht wiedererkennen. Das Verhältnis dürfte ähnlich sein wie das zwischen Arminius, der die Drachenlegion der Römer vernichtete, und dem Siegfried der germanischen Sagen. Arminius ist das historische Vorbild für Siegfried. Nur Arminius hat es wirklich gegeben, die Reste seiner Schlacht gegen die römische Legion hat man erst kürzlich gefunden. Der historische Jesus wurde unter einem Berg von Legenden begraben, das macht die Suche auch so schwer. Man müsste zunächst den Schutt aussieben, nur, dazu sind die Kirchen nicht bereit, und die meisten abhängigen Theologen gehorchen.
2 Antworten auf Hat Jesus je gelebt?