Ich bin Pfarrerssohn und lebenslanger Atheist, aber das hält mich nicht davion ab, mich für theologische Themen zu interessieren, da sie ein zentraler Teil aller menschlichen Kulturen sind und großen Einfluß auf unser Leben und Denken haben. Und so hat eine Frage auf Quora sofort den Spürhund in mir geweckt, auch wenn sie zunächst reichlich esotherisch klingen mag, nämlich: „Welches Ziel verfolgte Augustinus mit der „buchstäblichen“ Auslegung in der Schrift De Genesi ad litteram?
Augustinus voon Hippo war bekanntlich einer der einflussreichsten Theologen und Philosophen der christlichen Spätantike und prägte das Denken des Abendlandes bis heute. Sein Werk De Genesi ad litteram ist vielleicht das wichtigste Zeugnis christlicher Kosmologie in Antike und Mittelalter. Und es ist erstaunlich aktuell!
Augustinus warnt davor, die Schriften des Evangeliums allzu wörtlich auszulegen, weil er befürchtet, dass die Christen sich und ihre Religion damit zum Gespött der Andersglubigen machen würden. Die entsprechende Passage lautet:
„Nun ist es für einen Ungläubigen schändlich und gefährlich, einen Christen, der vermutlich die Bedeutung der Heiligen Schrift wiedergibt, Unsinn über diese Themen reden zu hören; und wir sollten alle Mittel ergreifen, um eine solche peinliche Situation zu verhindern, in der die Leute die große Unwissenheit eines Christen vorführen und sie zum Gespött machen. Die Schande besteht nicht so sehr darin, dass ein unwissendes Individuum verspottet wird, sondern darin, dass Menschen außerhalb der Gemeinschaft des Glaubens glauben, dass unsere heiligen Schriftsteller solche Meinungen vertreten haben, und zum großen Schaden derer, für deren Heil wir arbeiten, werden die Verfasser unserer Schrift kritisiert und als ungelehrte Menschen abgelehnt.“
Einige theistische Evolutionisten und fortschrittliche Kreationisten der „alten Erde“-Theorie haben diese Passage aus Augustinus‘ Werk benützt, um Kreationisten der „jungen Erde“-Fraktion auf ihren Irrtum hinzuweisen.
Christen, die die Evolution in Frage stellen und dem Kreationismus oder dem intelligente Design nachhängen, seien eine Schande für das Christentum insgesamt, weil sie dadurch riskieren, das Evangelium in Verruf zu bringen und echte Glaubenssuchende vom Christentum abzuwenden.
Im jahrhundertealten Streit zwischen Kreationisten über das Alter der Erde scheint Augustinius also fest auf der Seite der Theoretiker der alten Erde zu stehen, welche die sechs Schöpfungstage in der Genesis als unbestimmte Zeitspanne interpretieren. Dies ermöglicht es ihnen, sie auf unbestimmte Zeit auszudehnen, um sie an die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien anzupassen und so einen Evolutionsglauben in einem christlichen Kontext zu akzeptieren, was die Jungkreationisten ablehnen.
Die Frage ist auch heute noch aktuell. Eine Gallup-Umfrage zum Kreationismus aus dem Jahr 2017 ergab, dass 38 Prozent der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten die Ansicht vertraten, dass „Gott den Menschen in seiner heutigen Form irgendwann innerhalb der letzten 10.000 Jahre erschaffen hat“, und zwar in 6×24 Stunden!
Oh Heiliger Augustinus, bet für uns!