Wenn wir glauben, in Amerika gerade eine einmalige politische Übergangssituation zu durchleben, so irren wir uns gewaltig. Chaotische Wahlen haben dort eine lange Tradition, und eines der besten Beispiele lieferte ausgerechnet der Bundesstaat Georgia, wo sich in diesen Tagen ein für uns in Europa fast unglaubliches scheinendes Stück Politiktheater in Echtzeit abgespielt hat.
Für Amerika hingegen ist das ganz normal. Oder so sieht es aus, wenn man ein bisschen in der amerikanischen Wahlgeschichte blättert
Zum Beispiel im Jahr 1946: Da standen Wahlen an fürs Gouverneursamt in Georgia, und als alles vorbei war, gab es einen toten Gouverneur und drei lebendige – nämlich drei Politiker, die alle darauf bestanden, der echte gewählte Gouverneur zu sein.
Diese Geschichte habe ich von John A. Tures, einem Professor für Politwissenschaft am LaGrange College in Troup County, Georgia. Er hat sie auf der Website The Conversation geteilt, einer Plattform für unabhängigen Journalismus, die 1911 in Australien gegründet wurde. Unter der Überschrift „Ein katastrophaler Wahlausgang“ schildert er, wie Eugene Talmadge, der bereits zwischen 1933 und 1943 drei Amtszeiten als Gouverneur abgesessen hatte, 1946 noch einmal auf die Idee kam anzutreten. Er war damals nicht mehr der Jüngste, und um seine Gesundheit stand es auch nicht zum Besten, aber was soll’s sagte er sich, versuchen wir es noch ein letztes Mal!
In den Südstaaten waren nach dem Bürgerkrieg die Demokraten überall an der Macht, aber es gab unter ihnen solche und solche. Talmadge zählte zum konservativeren Flügel, sein Gegner James Carmichael war ein Fortschrittlicher. Als die Stimmen ausgezählt waren, lag Talmadge mit 43% leicht hinter Carmichael, der 45% bekam. Die restlichen 12% der Stimmen waren so genannte „write-in ballots“, also Stimmzettel, auf denen der Wähler den Namen eines beliebigen anderen Kandidaten schreiben konnte, der nicht auf der Wahlliste stand.
Um die Sache noch komplizierter zu machen, hatte sich Georgia ein Wahlsystem gegeben, dass „County Unit System“ hieß und das sie beim Electoral College bei den Präsidentenwahlen abgeguckt hatten. Demnach war der Staat in eine Reihe von Distrikten unterteilt, die jeweils Wahlmänner in die Hauptstadt schicken mussten, wo sie für den Kandidaten stimmen sollten, der in ihrem Distrikt die Mehrheit der Wählerstimmen bekommen hatte. Dieses System bevorzugte die ländlichen Bezirke und benachteiligte die wirtschaftsstarken Städte. Es wurde auch ein paar Jahrzehnte später vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärt und abgeschafft, aber bei der Wahl von 1946 war es noch in Kraft.
Dank des County Unit System wurde Talmadge zum Sieger erklärt, und zwar mit 59% zu 36%. Die Einschreibungskandidaten erhielten den Rest, aber das war nur eine Handvoll von Stimmzetteln, die alle unter ferner liefen landeten.
Doch dann wurde es nochmal richtig spannend, denn Talmadge verstarb am 21. Dezember 1946, kurz vor seiner Amtseinführung. Die Staatsverfassung von 1945 hatte das Amt eines Vizegouverneurs geschaffen und festgelegt, dass diese Person im Falle seines Todes den Gouverneur ersetzen sollte. Das Dumme war nur, dass Talmadge ja nicht vereidigt worden war. Das hätte am 14. Januar 1947 stattfinden sollen. Laut Verfassung oblag es also dem Staatsparlament, der General Assembly, einen Ersatzmann zu bestimmen.
Die Parlamentarier in Georgia waren mehrheitlich Talmadge-Fans, aber da ihnen schon vorher klar gewesen war, wie angeschlagen ihr Anführer war, hatten sie bis kurz vor der Amtseinführung damit gewartet, das Wahlergebnis zu bestätigen. Nachdem Talmadge das Zeitliche gesegnet hatte, waren sie verpflichtet, eine Stichwahl zwischen dem Zweit- und Drittplatzierten zu organisieren. Nur gab es leider keinen Drittplatzierten, sondern nur einen wirren Haufen Einschreibekandidaten.
In einer langen und turbulenten Nachsitzung, in der es angeblich hoch her gegangen sein soll – einige Abgeordnete haben angeblich versucht, ihre politischen Gegner betrunken zu machen, um sie von der Abstimmung fernzuhalten, und es sollen sogar Drogen im Spiel gewesen sein – wurde beschlossen, dass Talmadges Sohn Hermann gegen Carmichael antreten solle. Sohnemann hatte tatsächlich eine gewisse Anzahl von Einschreibstimmen erhalten, von denen aber einige dummerweise nachweislich von Toten abgegeben worden sein mussten.
Doch das hinderte die General Assembly nicht daran, Hermann Talmadge zum Nachfolger seines Vaters zu wählen. Aber damit war die Geschichte noch lange nicht zu Ende.
Der Amtsinhaber im Govenor’s Mansion in Atlanta hieß Ellis Arnall und war wie Carmichael ein Mitglied des progressiven Flügels der Demokraten. Der eröffnete einer staunenden Öffentlichkeit, dass er einfach im Amt zu verbleiben gedenke, bis der ganze Schlamassel geklärt sei.
Laut Prof. Tures bescheibt ein Bericht der Zeitung Atlanta Journal Constitution (die Website www.ajc.com ist zurzeit aus Europa nicht erreichbar, und zwar „due to GDPR rules“) was dann geschah. „In den frühen Morgenstunden des 15. Januar 1947 marschierten Herman Talmadge und sein Gefolge in den zweiten Stock des Kapitolgebäudes, um das Gouverneursamt zu übernehmen. … Talmadge-Anhänger durchbrachen entweder die verschlossenen Türen oder fanden einen Ersatzschlüssel. Am Eingang wartete Gouverneur Arnall, der sich weigerte, die soeben durchgeführte legislative Abstimmung anzuerkennen. Arnall nannte Talmadge ‚einen Heuchler‘ und weigerte sich, sein Amt aufzugeben. Ein Faustkampf zwischen Mitgliedern der Arnall- und Talmadge-Fraktion brach aus. Möbel wurden zertrümmert und zwei von Arnalls Helfern wurden von dem Mob zusammengeschlagen.“
Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge von zwischen 8.000 und 10.000 Talmadge-Anhängern vor dem Kapitol versammelt und forderten in Sprechchören seine Amtseinführung. Talmadge ließ inzwischen die Türschlösser des Kapitols austauschen und den (noch) amtierenden Gouverneur Arnall von der Staatsmiliz zu seinem Privathaus bringen, das ungefähr 40 Meilen entfernt lag…
Aber so leicht gibt ein Arnall nicht auf. Am nächsten Morgen erschien er wieder im Kapitol und ließ sich ein Schreibtisch unter das Rotundendach aufstellen, hinter dem er sich mit einer 38er Smith & Wesson verschanzte.
Das war der Moment, als noch ein dritter Kläger auftauchte. Melvin Thompson war der neugewählte Vizegouverneur und als progressiver Reformer ein erklärter Feind des Talmadge-Clans. Er wurde am 18. Januar in sein Stellvertreteramt eingeführt, woraufhin Arnall sofort zurücktrat, noch bevor sein gewählter Nachfolger Talmadge den Amtseid ablegen konnte. Thompson, der das bereits hinter sich hatte, erklärte sich umgehend selbst zum neuen Gouverneur! Von seinem Schreibtisch in der Rotunde aus kündigte Arnall an, er werde Thompsons Anspruch gegen Herman Talmadge unterstützen.
Das Ganze landete schließlich beim Obersten Gerichtshof von Georgia, die – allerdings erst am 19. März 1947, also 64 Tage nach Thompsons Amtseinführung, ihn zum vorläufigen Sieger erklärte.
Herman Talmadge trat bei der Nachwahl wieder an und gewann mit mehr als 97% der Stimmen. Der Streit war schließlich beigelegt, aber der Aufstieg von Herman Talmadge löste eine Reihe von rassenbedingten Kontroversen aus. In Fortführung der Familientradition entschied sich der jüngere Talmadge dafür, Schulen lieber zu schließen, anstatt sie zu integrieren. Er gewann später einen Sitz im US-Senat, wo er sich als Gegner der Bürgerrechtsgesetze einen unrühmlichen Namen machte.
Wir wissen ja noch nicht, wie die Auseinandersetzungen zwischen Trump und Biden ausgehen werden, aber wenn das historische Vorbild von Georgia ein Maßstab ist, könnte es noch sehr hoch hergehen…