Mit Facebook ist es wie mit dem Rest des Internets, aber auch mit dem Rest des Lebens überhaupt: 99 Prozent ist Müll – aber für das eine Prozent lohnt sich die ganze Sache! Und so stößt man immer wieder auf kleine Juwelen, die schmunzeln machen oder nachdenklich, froh oder traurig, oder bei denen man einfach zu sich sagt: „Mensch, toll das es das gibt!“
So ein Juwel ist die Facebook-Gruppe „Polizeikontrollen Lungau“. Keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen ist, andere Autofahrer per Posting zu warnen, wenn er irgendwo einen Streifenwagen am Wegrand sieht, aus dem heraus ein Beamter das Messgerät auf entgegenkommende Autofahrer richtet. Jedenfalls hat er damit ganz offensichtlich ein dringendes öffentliches Bedürfnis erkannt und befriedigt.
Die Gruppe ist jedenfalls, gemessen an der Größe der Bevölkerung des Lungau, sensationell erfolgreich. Als ich das letzte Mal reingeschaut habe hatten sich hier schon 2.701 Facebooker registrieren lassen. Hier im „Innergebirg“, wie die Salzburger diesen entlegenen kleinen Bezirk hinterm Tauernmassiv nennen, lebten bei der letzten Erhebung 2014 nur 20.668 Personen – Tendenz fallend. Wie viele strukturschwache Gebiete abseits der großen Ballungszentren leidet der Lungau seit Jahren an Landflucht: Die Jungen müssen raus, wenn sie studieren oder eine höhere Berufsausbildung machen wollen, und viele kommen nicht mehr zurück, weil es an Jobs und Aufstiegschancen fehlt.
Es machen also mehr als 13 Prozent aller Lungauer bei einer einzigen Facebook-Gruppe mit. Auf eine Stadt wie Wien übertragen hieße das, dass rund 226.000 Menschen sich auf eine entsprechende Facebook-Gruppe eintragen lassen müssten. Was sagt uns das?Zum einen, dass hier ein Nerv getroffen wurde. Im Lungau gibt es zwar einen öffentlichen Nahverkehr, aber die Busse pendeln viel zu selten und auch nicht unbedingt dahin, wo man hin will. Und so fahren die Leute hier eben sehr viel mit dem Auto, und viele haben es eilig. Die Polizei weiß das und reagiert, indem sie ihre Dienstzeit – es passiert ja sonst nicht viel im friedlichen Lungau – mit dem Aufspüren von Temposündern verbringen. An der OMV-Tankstelle zwischen St. Martin und Mauterndorf stehen sie fast jeden Tag, aber auch am Ortseingang des kleinen Weilers Höf, wo für etwa 300 Meter Tempo 50 angesagt, ansonsten aber 80 erlaubt ist. Die wenigstens gehen da vom Gas, und das bedeutet regelmäßig Knöllchen.
Zum anderen sind die Wege im Lungau lang, das Leben kurz. Wer hier vorschriftsmäßig fährt, gerät schnell zum Verkehrshindernis und zwingt andere zu oft riskanten Überholmanövern. Der Rasende Lungauer ist kein Fabelwesen, wie der Fliegende Holländer – obwohl es davon auch eine ganze Menge in unserem Tal gibt: Aus den Niederlanden kommen besonders viele Touristen zu uns. Die markante Bergkulisse des Lungaus übt offenbar besonders auf Flachländer eine besondere Faszination aus, und wer glaubt, Holländer fahren immer nur brav am Limit, der sollte sie mal hier erleben. Vielleicht ist es die dünne Höhenluft.
Die Facebook-Gruppe erfüllt also einen guten Zweck, denn wer einen Polizisten mit Radargerät sieht, hält hinterher kurz an (jedenfalls hoffe ich, dass er anhält und nicht während der Fahrt postet!) und schreibt etwas mit seinem Smartphone in Facebook hinein.
Und da wir im Lungau sind, und der Lungauer eine ganz besondere Sprache spricht, bekommen Zugereiste wie ich auf diese Weise auch noch kostenlose Unterweisung in der einheimischen Mundart, aber auch regionalen Geografieunterricht. „Huttersoag stengans“ bedeutet: „Am Sägewerk der Firma Hutter stehen sie“. „Gegenüber fa da kasern“ bedeutet, dass eine Streife in Tamsweg am Ortseingang neben der Strucker-Kaserne Aufstellung bezogen hat. Um den Satz „ba da Maut in michö steanz ze bis za da Agip (Zederhaus) hinta“ zu verstehen, muss man wissen, dass „Michö“ in Wahrheit „St. Michael“ ist, dass dort an der Autobahneinfahrt eine Mautstelle ist, wo sich in der Saison oft die Touristenautos stauen, so dass die Einheimischen über die Landstrasse nach Zederhaus ausweichen, was sich aber in diesem Moment wohl nicht lohnen dürfte.
Mit ein bisschen Fantasie kann selbst ein Zugroaster entziffern, was „Fois wer Richtung Sbg is, nochn Tauerntunnel bei da Roststättn deanse radan“ bedeuten soll, nämlich, dass derjenige, der Richtung Salzburg unterwegs ist, sich vor der Autobahnraststätte in Acht nehmen soll, weil „sie“ dort „radarn“.
Manchmal verwenden Lungauer, die sich über die dauernde Polizeipräsenz ärgern, auch eine etwas derbere Sprache. Und so schrieb unlängst einer: „Bei Mauerndorf stegan sie, die wixer“. Das hat einen Polizisten, der sich offenbar inkognito in die Gruppe geschlichen hat, offenbar auf sich bezogen, und er hat sich so geärgert, dass er den Schreiber ausfindig gemacht und ihm eine Organstrafverfügung über 40 Euro ins Haus geschickt hat. Grund: „Stören der öffentlichen Ordnung“.
Nun ist diese Gruppe aber eine so genannte „geschlossene Gruppe“. Bei Facebook ist das folgendermaßen definiert: „Jeder kann die Gruppe finden und ihre Mitglieder sehen. Nur Mitglieder können Beiträge sehen.“ Es wäre deshalb lustig gewesen zu sehen, was passiert wäre, wenn der Schreiber sich geweigert hätte zu bezahlen. Schließlich konnte er ja kaum die öffentliche Ordnung in einer nichtöffentlichen Benutzergruppe stören. Aber leider hatte er Schiss vor der Polizei und hat bezahlt – schade. Ich hätte gerne über den Prozess berichtet.
Warum ich das alles so genau weiß? Nun, aus irgendeinem unverständlichen Grund bin ich der Chef dieser Gruppe , der „Administrator“. Ich alleine entscheide, wer aufgenommen wird, und es ist meine Aufgabe, Meldungen anderer Mitglieder über anstößige oder irrelevante Einträge zu überprüfen.
So finden es manche Lungauer offenbar lustig, Pornovideos zu posten oder Bilder vom letzten Asienurlaub oder von der Schwiegeroma. Als Administrator ist es mein Job, diese Einträge zu löschen. Ich tue das ungern, und ich schreibe dem Missetäter auch immer vorher eine Warnung und bitte ihn, sich zu bessern. Nur ein paarmal mußte ich bisher zum Äußersten gehen und den Kerl dauerhaft blockieren.
Als Admin bin ich auch derjenige der entscheiden muss, wer in die Gruppe aufgenommen wird und wer nicht. Bei Leuten aus der Region ist es einfach, die kommen rein. Es gibt aber auch Anfragen aus Wien oder Hamburg, was zunächst ja keinen rechten Sinn zu machen scheint. Ein Blick auf ihre Facebook-Profile verrät aber oft, dass sie Wurzeln im Lungau haben. Vielleicht haben sie ja Sehnsucht. Vielleicht wollen sie nur ihre Kenntnisse der heimischen Mundart aufpolieren. Aber vielleicht kommen sie ja auch demnächst wieder auf Heimatbesuch und wollen die Verkehrssituation abklopfen.
Was allerdings die vielen hübschen jungen Damen aus Südostasien in der Gruppe wollen, erschließt sich mir nicht sofort. Ich denke, es geht ihnen auch um Verkehr, nur ganz anderer. Es sind allerdings häufig auch Männer darunter, manchmal aus Südafrika oder Südamerika, die offenbar nur Kontakt zu Menschen in Europa suchen. Das ist dann jedesmal eine Gewissensfrage, aber ich denke, aus Montevideo oder Johannesburg kann keiner einen nützlichen Beitrag zur Gruppe leisten zur Verkehrsüberwachung, also lösche ich sie meistens gleich wieder.
Ob ich das sollte? Keine Ahnung – ich habe nämlich keine Ahnung, was meine Aufgabe ist, und ich habe mich auch nicht um diesen Job gerissen; er ist mir irgendwie zugefallen. Als ich die Gruppe vor etwa zwei Jahren zufällig entdeckte, wollte ich eigentlich nur ein ganz normale Mitglied werden und habe mich beim damaligen Admin beworben. Der hat mich freigeschaltet, und eines Tages war ich plötzlich selbst der Administrator. Man kann nämlich jedes andere Mitglied in den Admin-Status erheben, ohne ihn zu fragen. Das ist bei Facebook so.
Ja, ich könnte das Amt auch einfach zurücklegen. Mein Vorgänger hat das offenbar getan, denn ich bin derzeit der einzige, der für die Gruppe verantwortlich ist. Aber was würde passieren, wenn ich jetzt meinerseits den Amtsverzicht üben würde? Dann gäbe es gar keinen Admin mehr, und wer weiß, was das für Folgen hätte? Womöglich würde Facebook die ganze Gruppe auflösen, und der Lungau – und das Internet – wären um ein Paradebeispiel für das funktionierende menschliche Miteinander im Zeitalter des Social Web ärmer.
Zwei Erkenntnisse ziehe ich aus dieser kleinen Geschichte. Erstens: Es gibt auch hinter den Bergen bei den sieben Zwergen moderne, aufgeschlossene Menschen, die mit beiden Beinen im Digitalzeitalter stehen und sich ein Medium wie Facebook ganz selbstverständlich zunutze machen. Andererseits gibt es besonders viele Alte hier, von denen einige das Internet überhaupt ablehnen.
„Facebook hat der Teufel erfunden“, sagte neulich ein alter Lions-Freund allen Ernstes zu mir. Nun, im Lungau hat die Gegenreformation im 17. Jahrhundert besonders heftig gewütet, und vielleicht sind das die letzten Spuren davon. So ist wohl kaum zu erwarten, dass die Mehrzahl der Lungauer zur Facebookgemeinde übertreten werden. Aber 2.701 sind schon mal ein schöner Anfang.
Eine Antwort auf Dringendes Bedürfnis nach Teufelskult