Mary Beard, die berühmte Historikerin des alten Roms und Professorin am Newnham College in Cambridge, hat in ihrem neuesten Buch, Emperors of Rome, einen bemerkenswerten Satz geschrieben.
Die Autokratie stellt die natürliche Ordnung der Dinge auf den Kopf und ersetzt die Realität durch eine Täuschung, die unser Vertrauen in das, was wir zu sehen glauben, untergräbt.
Sie meinte eigentlich die römischen Kaiser von Augustus bis Septimus Severus, aber sie hätte genau den gleichen Satz über moderne Autokraten wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan, Viktor Urbán, Kim Jong Un oder Vladimir Putin schreiben können. Stets erfinden diese Herrscher ihre eigene Wahrheit. Und sie schaffen es immer wieder, einen Großteil der Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie recht haben.
Das gilt für Trumps erfundene Wahlfälschungen in den USA genau wie für Putins Märchen von den Nazis in Kiew, von denen die Russen sie befreien müssten.
Ich bin Stammgast auf Quora, der Social Media Plattform, die es jedem erlaubt, noch so dämliche und manchmal auch hochgescheite Fragen zu stellen, die jeder nach seinem Gusto beantworten kann. Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für Konspirationstheoretiker oder durchgeknallte Fundamentalisten, die immer noch nicht glauben wollen, dass Neil Armstrong einmal als erster Mensch den Mond betreten hat, oder die behaupten, dass Abtreibung ein Verstoß gegen das göttliche Gebot ist.
Aber immer häufiger sind es Fragen zu Joe Biden und seinem Sohn, denen die Ultrarechten gerne Korruption anhängen wollen, oder warum Trump die letzte Wahl doch gewonnen hat. Das wäre an sich nicht so schlimm, wenn sich die Republikaner nicht gerade einen Unterhaussprecher gewählt hätten, der diese Töne in den Congress trägt und der in der Nachfolger des Präsidenten im Notfall an dritter Stelle steht – nur zwei Herzschläge entfernt vom höchsten Amt im mächtigsten Land der Erde.
Das macht mir Angst.
Realität und Täuschung, so Mary Beard, liegen ebenfalls ganz eng beieinander, und sie können von Autokraten nach Belieben verformt werden. Aber unsere Demokratie basiert darauf, dass wir uns weitgehend einig sind, was überhaupt Realität ist.
Vor diesem Hintergrund kann man Fake News als eine primäre Gefahr für unsere westliche Gesellschaftsform sehen. Wenn jemand gutgläubig genug ist, Donald Trump und Jesus auf die gleiche Stufe zu stellen, dann weicht er damit den Kitt auf, der unser System zusammenhält.
Das 21ste Jahrhundert wird ein Kampf sein zwischen Demokraten und Autokraten, und es ist keineswegs sicher, wer am Ende die Nase vorn haben wird. Ich bin inzwischen 73 Jahre alt, und ich werde nicht mehr den Ausgang dieses Titanenkampfes erleben.
Aber dank Frau Beard ist mir inzwischen klar, dass wir in den letzten 2000 Jahren keinen Schritt weitergekommen sind: Nach wie vor drehen es sich mächtige Männer – ja, es sind fast immer Männer – die Wahrheit so, wie sie sich wünschen. Wir dürfen ihnen das nicht durchgehen lassen!