„Wie ungarisch war Österreich-Ungarn?“ Das Thema interessiert offenbar viele auf Quora, und es gibt dazu keine einheitliche Meinung. Wer die vielen Sissi-Filme gesehen hat, hält die ehemalige Kaiserin für einen leidenschaftliche Fan ungarischer Selbstbestimmung und ihren Gatten Franz-Ferdinand für einen verkrustete Autokraten, der die Ungarn zeitlebens zu unterdrücken suchte. Das war mir schon immer zu eindimensional, aber neulich habe ich einen Podcast („European History – Key Battles“ von Carl Ryan) gehört, in argumentiert wird, dass Österreich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg viel aufgeklärter war als die meisten annehmen, während die Ungarn die wahren Bremser waren, die den Fortschritt blockiert haben und eine Politik der erzwungenen Magyarisierung verfolgten.
Stark verkürzt lautet Ryans These, dass Österreich im ausgehenden 19ten Jahrhundert verantwortungsbewusst, tolerant und multikulturell war, während die ungarische Reichshälfte alle gezwungen haben, Magyarisch zu sprechen, und ihren Untertanenvölkern wie den Kroaten rigide Gesetze aufzwangen.
Tatsächlich stellten im Ausgleich von 1867, aus dem Österreich-Ungarn hervorging, die Magyaren mit insgesamt etwa zehn Millionen Menschen 48 Prozent der Gesamtbevölkerung und dominierten ihr eigenes Parlament mit 405 Sitzen gegenüber 5 Sitzen für die Rumänen und 3 Sitzen für die Slowaken. Sie beherrschten auch die Geschäfts- und Berufswelt und führten eine Politik der Zwangsmagyarisierung ein, die nicht auf die Vertreibung der Nicht-Magyaren, sondern auf deren Assimilierung abzielte. Wenn man die magyarische Sprache und Kultur akzeptierte, wurde man als Gleichberechtigte behandelt . Wenn man seine slowakische, kroatische oder litauische Identität beibehielt, wurden man brutal unterdrückt.
Während in der österreichischen Reichshälfte die Behörden inzwischen gar nicht mehr versuchten, eine gemeinsame deutsche Kultur durchzusetzen, beschleunigte sich in Ungarn der Prozess der erzwungenen Magyarisierung, so dass die beiden Reichshälften gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die interne Nationalpolitik in einem radikalen Gegensatz zueinander standen. Ungarn weigerte sich trotz der Proteste aus Wien, seine nationale Politik zu ändern, und erwies sich als Blockierer einer allgemeinen Reform der Doppelmonarchie. Die österreichisch-ungarischen Budgets mussten von beiden Parlamenten genehmigt werden, und das Misstrauen zwischen den beiden Seiten führte dazu, dass die Ungarn die Heeresgesetze, die eine Reform oder die Umstrukturierung der regulären Armee vorsahen, zu kürzen versuchten oder ihr Veto einzulegen.
Die Kroaten erreichten 1868 ein eigenes Abkommen mit Ungarn, eine stark abgeschwächte Version des Ausgleichs von 1867, der den Kroaten eine autonome Verwaltung sowie die Kontrolle über das Bildungssystem und die Gerichte garantieren sollte. In Wirklichkeit schenkten die Ungarn den kroatischen Rechtsbestrebungen wenig Beachtung. Auch die Pläne für eine Eisenbahnlinie nach Dalmatien wurden nicht genehmigt.
Die Kroaten schlugen Wien die gleichen Rechte wie Ungarn in einer Art trialistischem statt dem bestehenden dualistischem System vor, aber die Ungarn lehnten das strikt ab. Letztendlich waren alle Seiten mit dem dualen System unzufrieden. Die Österreicher ärgerten sich über das überproportionale Gewicht der Ungarn innerhalb der Monarchie, während die Ungarn ständig auf mehr Autonomie drängten und jede Änderung blockierten, die ihr eigenes Gewicht verringern würde.
Praktisch alle anderen nationalen Gruppen verabscheuten das Arrangement, da es sie ungerechterweise ausschloss. Das wiederholte Weigerung von Kaiser Franz-Josef, den Ungarn die Stirn zu bieten und die nationalen Minderheiten, einschließlich der traditionell habsburgischen Kroaten, vor magyarischen Übergriffen zu schützen, wurde ihm bitter verübelt. Doch der bärtige Alte in Wien, der seit 1848 auf dem Thron saß, symbolisierte dennoch für die Menschen im Reich Autorität, Legitimität und Verbundenheit in einer Weise, die sie trotz aller Missstände gegen das Regime respektierten.
Wir alle wissen, wo dies endete, nämlich in Sarajewo und in den Schrecken des Großen Krieges.